TAGEBUCH MEINER WANDERUNG VON TANGERMÜNDE
                                  NACH SAARBRÜCKEN (800 km)

                                               von 

                                      JÜRGEN BREINIG

  • Interessierte können die dazugehörigen Karten des Berichtes und eine  Entfernungstabelle per Email bestellen, unter
         > info@jakobusgesellschaft-berlin-brandenburg.de

18.05.2009    Tangermünde - 32 Km - Bertingen                (32 Km)
Der Regen prasselte die ganze Nacht, am Morgen lässt er etwas nach. Die S-Bahn bringt mich zum Hauptbahnhof. Im Regionalexpress nach Rathenow komme ich ins Gespräch mit einem Ev. Pfarrer. Er war fünf Jahre in Südwestfrankreich, half mit beim Aufbau von Herbergen in Zisterzienser-Klöstern, dort wurde warmes Essen für Pilger angeboten gegen eine geringe Spende, bis die örtliche Gastronomie dem ein Ende setzte. Jetzt ist er wieder mit seiner Familie in Deutschland, arbeitet als Lehrer in Magdeburg.

Hinter Wustermark wird die Landschaft einsamer, kleine Dörfer, einsame Gehöfte. In Rathenow warte ich auf den Bus, der mich nach Großwudicke bringen soll. Wegen Gleisbauarbeiten ist ein Schienenersatzverkehr mit Bussen eingerichtet. Hier in Rathenow war ich vor 3 Jahren zur Landesgartenschau, die in diesem Jahr meine Heimatstadt Oranienburg ausrichtet. Die wurde erst vor wenigen Tagen eröffnet und soll der Vorgängerin angeblich in nichts nachstehen.

Während der Wartezeit habe ich Gelegenheit zur Würdigung von Johann Heinrich August von Duncker, einem Sohn der Stadt. Theologe und Industrieller, Begründer der Deutschen Optischen Industrie, wie es auf dem Denkmal gegenüber dem Bahnhofsgebäude heißt.

Großwudicke: ein winziger Ort, der sich hinter der Schallschutzwand der Bahntrasse versteckt, der letzte auf brandenburgischem Gebiet. Kein Wegweiser zeigt an der Abzweigung auf der B188 den Weg hierher. Hier wartet die Regionalbahn nach Stendal auf die wenigen Mitreisenden, und schon geht’s weiter.

Vor Hämerten überquere ich die Elbe und erhasche einen kurzen Blick auf Tangermünde. Der Turm der mächtigen Stephanskirche thront über der Stadt. Nach Tangermünde war ich bereits letzten Sommer von Oranienburg über Bad Wilsnack gelaufen – streckenweise mit einer Gruppe Jakobspilger um Professor Oefelein anlässlich der Wiedereröffnung des historischen Pilgerweges von Bad Wilsnack nach Tangermünde.

Dann bin ich endlich in Tangermünde, dem Ort, von dem aus ich meine Wanderung auf dem Jakobsweg fortsetzen werde. Eigentlich führt der Jakobsweg im Saarland über Perl. Aber da ich Freunde und Familie in Saarbrücken habe, werde ich auf den letzten Etappen etwas vom „rechten Weg“ abkommen.

Um den Stempel für meinen Pilgerausweis zu bekommen, muss ich noch ein wenig warten. Der Pfarrer hat Besuch, er verweist mich an die Frauen in der Kirche. Die öffnet aber erst um 11 Uhr. Die Frauen und die Katholische Kirche: Was wäre sie ohne die zahlreichen, ehrenamtlich tätigen Frauen? Welches Mitspracherecht haben sie dafür in dieser von alten Männern dominierten Kirche?

Für die Etappen bis Magdeburg habe ich mir die Karten des Elbe-Radwanderweges besorgt. Kaum bin ich am Fluss, spricht mich ein älterer Mann an, der auf der Jagd nach Nerzen war, die es sich in seinem Kajütboot bequem gemacht hatten. Vor Jahren hatte man hier 4000 amerikanische Nerze ausgewildert, die daraufhin alles kurz und klein gefressen haben, auch Singvögel und die kleineren einheimischen Nerze. Jetzt versucht man sie wieder einzufangen bevor sie immer zahlreicher werden.

Der Weg verläuft auf oder neben dem Damm, die hier noch naturbelassene Elbe immer in Sichtweite. Schwäne auf dem Wasser, grasende Kühe am Ufer. Der Raps ist verblüht, kein

leuchtendes Gelb mehr auf den Feldern. Der Flieder ist auch schon braun, schade. Ich bin 2-3 Wochen zu spät gestartet. Aber das Wetter war einfach noch zu wechselhaft gewesen.

Vor dem Örtchen Buch hat der Nabu einen Vogelbeobachtungsturm aufgestellt. Ich erklimme die 36 Stufen und mache Rast bei phantastischer Weitsicht ins flache Land.

Hinter Schelldorf führt der Weg etwas abseits der Elbe nach Grieben und von dort nach Bittkau. Im Ort stehen eine Gruppe Bänke am Weg, hier mache ich Rast inmitten des Dorfes. Vier kleine Mädchen von etwa 8 Jahren führen ihre Hunde aus. Kichernd umkreisen sie mich, bis sie sich endlich trauen und sich zu mir setzen. Sofort plappern sie los wie ein Wasserfall, ich erfahre die Namen der Mädchen …und der Hunde …und wer wem gehört …und was sie alles können …und wo sie wohnen …und wie die Lehrerin heißt …und welches ihre Lieblingsfächer sind …und alles durcheinander und gleichzeitig, es ist, als ob jemand ein Fass aufgemacht hätte. Ein Foto, eine Hanuta für jede der vier Grazien und weiter geht’s.

Die Orte liegen wie schmucke Perlen an der Elbe: Polte, Ringfurth, Sandfurth, Kehnert. Viele Häuser sind stilvoll renoviert, die Straßen gepflastert oder geteert, alles sehr sauber. Der Himmel ist bedeckt, es sieht nach Gewitter aus, aber es bleibt trocken. Die Sonne scheint ab und zu von vorne ins Gesicht, sehr angenehm.

In Bertingen gibt es zwei Übernachtungsmöglichkeiten, ich entscheide mich für den Campingplatz, zwei Kilometer hinter dem Ort, abseits vom Elberadweg. Als ich endlich ankomme, ist der Platz geschlossen, eine Baustelle! Also wieder zwei Kilometer zurück zur nächsten Adresse. Ich will schnell ankommen, entscheide mich für eine Abkürzung durch den Wald und mache vermutlich einen Riesenumweg. Wie ich schon immer sagte: der längste Weg von A nach B ist die Abkürzung…

Das Hotel entpuppt sich als ein Feriendorf mit vielen alleinstehenden Bungalows mit komfortablen Zimmern. Ich bin sehr zufrieden, setze mich nach dem Duschen und Wäschewaschen noch nach draußen in die Gartenwirtschaft und trinke einen ganzen Liter Spezi. Prost!

19.05.2009     Bertingen - 39 Km - Magdeburg                    (71 Km)
Das Frühstücksbüffet ist die wahre Wucht, alle Achtung! Viele Radwanderer und Bauarbeiter sind im Raum. Eine Gruppe aus dem Saarland erkenne ich am Dialekt als Homburger „unn schwätze e bißsche mit denne wie uns dahemm de Schnawwel gewachs is…“

Der Tag ist windstill und sehr sonnig. Der Weg führt anfangs entlang der Altelbe, ein Paradies für Tiere. Abertausende Frösche machen einen Höllenlärm, viele Schwäne ziehen gelassen über das ruhige Wasser. In der frühen Stunde sind kaum Radler unterwegs, Wanderer sowieso keine. Nahe Rogätz (Betonung auf der 2.Silbe) sind riesige, hohe, weiße Sandberge aufgetürmt, die ich vor Jahren bei unseren vielen Fahrten mit dem ICE nach Berlin schon bestaunte. Will mich bei Gelegenheit mal erkundigen, um was es sich da handelt.

Mein linker Fuß und mein linkes Knie schmerzen. Die neuen orthopädischen Schuheinlagen verändern vermutlich die Statik, vielleicht müssen sich die Gelenke erst wieder neu ausrichten?

Ich laufe seit gestern durch die Altmark. Die gehört seit der Wiedervereinigung zu Sachsen-Anhalt, die Einwohner hatten dies mehrheitlich so bestimmt, obwohl die Altmark eigentlich -als Teil der Kurmark - das Stammland der Mark Brandenburg ist, im Wesentlichen also die heutigen Bundesländer Berlin und Brandenburg (mit Ausnahme der Niederlausitz).

Der rechtselbische Radwanderweg verläuft meist am Fuße des Hochwasserdammes, man sieht die Elbe und die Auenlandschaft mit den Altarmen nicht. Dafür aber Korn- und Rapsfelder zur Linken soweit das Auge reicht. Ein Storch fliegt einsam übers flache Land. Ein Fasan erschrickt in meiner Nähe und flüchtet laut flatternd aus den Wiesen. Vogelgezwitscher erfüllt die Luft, leider kann ich nur wenige der Sänger unterscheiden.

Zwischen Schartau und Niegripp mache ich zum ersten Mal Rast nach 3 Stunden bzw. 14 Kilometer. Ich laufe etwa 4,5 Km/h, 130 Schritte pro 100 Meter. Hatte ich schon erwähnt, dass mein linkes Knie schmerzt? Das Gelände ist bretteben, ich komme gut voran. Lediglich hin und wieder ein kurzer Anstieg auf die Deichkrone zum Rundumblick.

Bei Niegripp scheinen die weißen Sandberge von Rogätz noch näher, noch höher. Ich befrage zwei Frauen im Ort: es sind Abraumhalden des nahen Kalibergwerkes. Hier in dieser Gegend, auch unter dem Ort selbst, werden Kalisalze in 1000 Meter Tiefe abgebaut, manchmal würde man nachts die Maschinen hören. Warum die Halden nicht wieder verfüllt würden, will ich wissen. Das wäre eine wirklich gute Idee, sie sind ehrlich erstaunt. Ob sie nicht Angst haben, dass der leere Salzstock eines Tages als Endlager für Atommüll verwendet würde? Das macht sie nachdenklich, sie sind erschrocken und verunsichert. Da hab ich ja was angerichtet… Ich mach mich aus dem Staub.

Drei Radfahrer gesellen sich zu meinem Frühstück. Sie starteten am Samstag in Schmilka an der tschechischen Grenze und fuhren in drei Tagen etwa 400 Kilometer. Heute Abend wollen sie in Tangermünde sein, da stammt der Älteste von ihnen her, und der ist immerhin schon rüstige 68! Hut ab! Sie können nicht verstehen, dass ich meinen Weg zu Fuß gehe, mit dem Rad ginge es doch viel schneller, meinen sie. Ja, eben, deshalb laufe ich ja. Ich könnte auch mit dem Zug fahren, dann ginge es noch schneller! Ich will aber die Landschaft, den Weg, die Begegnungen in mich aufnehmen, mein Leben verlangsamen, zur Ruhe und zu mir selbst kommen. Deshalb laufe ich.

Auf einer Brücke über den Elbe-Havel-Kanal gelange ich zur Doppelschleuse  von Hohenwarthe. Eine mächtige Anlage, wirklich beeindruckend. Müsste auch jedem Nicht-Techniker imponieren. Weiter geht’s am Kanal entlang zum Wasserstraßenkreuz bei Hohenwarthe. Hier fließt die Elbe unter dem Kanal durch, der dann westlich von hier Mittellandkanal genannt wird.

Bei einer Rast in Hohenwarthe gesellt sich eine Gruppe von 6 älteren Pärchen hinzu. Mein Nachbar auf der Bank erzählt von einer Radtour durchs Saarland letztes Jahr. Ich spitze die Ohren. Er war in Saarbrücken in einem Hotel mit einem Sterne-Koch, davon schwärmt er noch heute. Das Saarland gefiel ihm, aber die Landschaft war für ihn und seine Frau (beide 70) zu hügelig, zu anstrengend.

In Magdeburg komme ich am späten Nachmittag an und finde leicht die Jugendherberge. Ich hatte mir zuhause für alle JH auf dem Weg bei Google.Maps die Stadtpläne ausgedruckt. Die JH entpuppt sich als nicht ganz billig. Ich hätte vielleicht auch ein preiswerteres Privatzimmer etwas außerhalb des Zentrums bekommen können, hatte aber vorbestellt. Sei’s drum.

Nach dem Duschen und Wäschewaschen bummele ich durch das Zentrum, zur Zitadelle von  Hundertwasser, und zum Dom. Die Innenstadt von Magdeburg präsentiert sich mit sauberen, hellen, freundlichen Fassaden, schön gestalteten Plätzen, Brunnen, Sitzbänken, Schatten spendenden Bäumen, vielen Skulpturen und Straßencafés.

20.05.2009     Magdeburg - (38 Km) - Krottorf - 16 Km - Huysburg              (87 Km)
Ich kann mir Zeit lassen für eine ausgiebige Besichtigung von Magdeburg, insbesondere der Zitadelle und des Doms. Da der Weg durch die Börde kilometerlang auf Landes- und Bundesstraßen verläuft, hatte ich schon zuhause beschlossen, diese Strecke zu meiden und mit dem Zug zu durchfahren.

Bei der Zitadelle stelle ich mich zu einer Gymnasialklasse und höre den Erläuterungen des Lehrers zu. Friedensreich Hundertwasser (eigentlich Friedrich Strohwasser), Wiener, Jude, Künstler, Maler, später auch Architekt, nennt die Architektur der Moderne „in Beton gegossene Scheußlichkeiten“. Er lehnt die gerade Linie als „gottlos“ ab. 1996 entsteht die „Grüne Zitadelle“ nachdem er als Sieger aus einem Wettbewerb für den Umbau eines Plattenbaus hervor ging. Die Platte wurde dabei allerdings gänzlich abgerissen. Die Zitadelle soll ihre Bewohner vor der „verbrecherischen Architektur“ des Umfelds schützen.

Ich sehe Magdeburg mit anderen Augen. Die gestern noch als schön empfundenen Plätze und Fassaden kommen mir nunmehr nackt, kahl, einfallslos vor. Wie sähe wohl Magdeburg aus, wenn die ganze Stadt nach den Plänen von Hundertwasser gebaut wäre? Bunt, begrünt, lebendig, chaotisch, mit einem Wort: schön! Hundertwasser plädierte für die Begrünung von Dächern und wurde ausgelacht, heute findet man dies allerorten.

Das Hauptschiff, die Seitenschiffe und der Kreuzgang des Domes wirken schlicht, trotz der Vielzahl an kunstvollen Ornamenten, Wandreliefs, Grabplatten, dem Chor, Hochaltar und dem Gestühl. Die zahlreichen Darstellungen auf Portalen und Kirchenfenstern waren „die Bibel für Arme“: für die des Lesens Unkundigen im Mittelalter wurde die Heilige Schrift bildhaft dargestellt.

In der Sebastianskirche gegenüber riecht es katholisch: viel Weihrauch erinnert mich an meine Kindheit.

Dann geht es mit der Privatbahn Richtung Harz. Ich verlasse Magdeburg per Bahn und habe Zeit, mir Gedanken über die Geschichte des Landes zu machen.

Die Burg, die der Stadt ihren Namen gab, wurde schon im 6.Jhdt errichtet als Grenzbefestigung gegen die Slawen am östlichen Ufer. 772 begannen die christlichen Franken unter Karl dem Großen die Kriege gegen die heidnischen Germanen. Zwar unterwarf sich bereits 785 der sächsische Heerführer und Herzog („der vor dem Heer ins Feld zog“) Widukind und nahm den christlichen Glauben an, aber erst 805 wurden die Kämpfe endgültig beendet. Die Eingliederung der Sachsen in das christliche Frankenreich war so erfolgreich, dass sie bereits 100 Jahre nach ihrer Unterwerfung mit Otto I. den deutschen Kaiser stellten. Den Ottonen ist der Erhalt des Doms zu verdanken: nach einem Brand wird er im gotischen Stil wieder aufgebaut.

Auf der östlichen Seite der Elbe konnte der Askanier Albrecht der Bär das Christentum bis zur Oder ausweiteten, indem er 1157 die Macht über die Slawen (Heveller an der Havel und Sprewanen an der Spree) endgültig festigte. Er begründete die Mark Brandenburg. Sorben und Wenden im heutigen Sachsen und südlichen Brandenburg sind Nachfahren der ursprünglichen Bevölkerung, die sich ihre Kultur und Sprache weitgehend erhalten haben.

Der Blick aus dem Zug zeigt endlose Weizenfelder. Und die unvermeidlichen Windräder, sie vermehren sich wie die Karnickel. Bauerngehöfte und Siedlungen in nächster Nähe müssen das Geräusch und den Schlagschatten der Rotoren ertragen.

Oschersleben ist die einzige größere Siedlung am Weg, mit dem ganzen Spektrum der Nachwendezeit. Verwahrloste Penner am Bahnhof, verlassene Industrieanlagen, herunter gekommene Plattenbauten, noch immer unsaniert. Alte Häuser mit ehemals schönen Fassaden, heute nur noch Ruinen. Aber auch vereinzelt mittelständische Industrie in neuen Hallen, kleinbürgerliche Häuser mit gepflegten Gärten. Und wieder flaches Land mit endlosen Feldern.

Dann endlich Krottorf: hier ist seit Menschengedenken wohl niemand mehr ausgestiegen. Der Zugführer schaut auf mich und meinen Rucksack herunter und schüttelt verwundert den Kopf. Eine Handvoll Häuser, z. T. verlassen. Sehr einsam. Wer wohnt hier und warum? Dann aber große Freude: voraus in Richtung Schwanebeck sind Berge am Horizont zu sehen. Zum ersten mal wieder Berge! Die Huysberge und – dahinter – der Harz locken in der Ferne. Der höchste, breit ausladende Berg ist vermutlich der Brocken, noch in weiter Ferne, aber schon in Sichtweite.

Auf der Landstraße geht es nach Schwanebeck. Obwohl relativ wenig Autos fahren, bin ich doch empfindlich gestört durch die Geschwindigkeit, mit der die PKW und vor allem die LKW dicht an mir vorbei rauschen. In Schwanebeck muss ich die Einwohner nach dem Weg fragen und habe einige Probleme, die vielen – sich zum Teil widersprechenden - Hinweise unter einen Hut zu bekommen. Schließlich bin ich doch endlich auf dem Plattenweg, der mich nach Röderhof führt.

Über eine Stunde geht es nur bergauf. Mein Knie meldet sich wieder, ich hatte mir wohl in den ersten beiden Tagen bis Magdeburg zuviel zugemutet. Ich bin total alleine, es ist hier so einsam und so ruhig, dass ein Fuchs mich erst bemerkt, als ich etwa 50 Meter an ihn rankomme. Er reagiert erst auf das Geräusch der Kamera, sieht mich und verschwindet. Irgendwann tauchen die drei Spitztürme von Kloster Huysburg (gesprochen Hüüsburg) über den Baumwipfeln auf und geben die Richtung – aber auch die Entfernung vor. Ist noch ein gutes Stück zu laufen heute.

Die Waldgaststätte unterhalb des Klosters hat zurzeit leider keine Zimmer frei, das Gebäude wird innen renoviert. Ich muss ins Kloster. Ein weiterer steiler Anstieg also, denn das Kloster  liegt immerhin auf fast 300 Höhenmeter. Die Wirtin sieht meine Enttäuschung über die Ablehnung und spendiert mir ein kostenloses Spezi. Danke! Auf Ihr Wohl!

Das Kloster ist eine weitläufige Anlage in bestem Zustand innen und außen. Außer der eigentlichen Benediktinerabtei mit Kirche gehören noch das Konvent, ein Gästehaus, die Seminarräume, das Klostercafé und der Speisesaal dazu. Alle Schlafräume sind nobel eingerichtet. In meinem Zimmer liegt ein Flyer aus, auf dem u.a. folgendes zu lesen ist: Huysburg, Benediktinerkloster, Wallfahrtsort, Pfarrei, Tagungs- und Gästehaus prägen gemeinsam diesen Ort. Die Huysburg liegt auf einem Höhenzug, dem Huy, im nördlichen Harzvorland unweit von Halberstadt. Sie gehört zur Straße der Romanik und liegt am Jakobusweg Sachsen-Anhalts.

Vor dem Abendessen wird zur Vesper (Abendandacht) und Complet (Abschluss) geläutet. Die Gäste –meist Urlauber für einen besinnlichen Kurzaufenthalt hier- dürfen während der Andachten im Chorgestühl neben den Patres Platz nehmen. Im Anschluss an die Vesper erteilt Prior Antonius den Pilgersegen für mich und einen weiteren Pilger, der übermorgen nach Saint-Jean-Pied-de-Port aufbrechen wird, um nach Santiago de Compostela zu pilgern. Genau diesen Weg war ich bereits im Herbst 2007 gelaufen.

Danach sitze ich mit einem Ehepaar aus Hürth bei Köln am Abendtisch und unterhalte mich angeregt. Die beiden erinnern mich auf sehr angenehme Weise in vielem an meine lieben Nachbarn zuhause in Lehnitz. Heute habe ich mein erstes warmes Essen seit Beginn der Wanderung. Bruder Jakobus, der bei den Andachten so schön gesungen hatte, betreut das Gästehaus und kommt an unseren Tisch um sich nach dem Wohlbefinden und der Zufriedenheit seiner Gäste zu erkundigen.

Anschließend wird zu einer -etwas zu lange geratenen- Vigilfeier (Nachtwache) gebeten anlässlich des morgigen Feiertages Christi Himmelfahrt.

21.05.2009     Kloster Huysburg -25 Km - Osterwieck                (112 Km)
Heute ist Feiertag: Christi Himmelfahrt. Für die Wessis Vatertag. Für die Ossis Herrentag. Für Ossis und Wessis gilt: heute nehmen die Männer sich einen zur Brust, gerne auch zwei…

Ich bin noch vor dem Frühstück draußen im Klosterhof an der frischen Luft und rede ein wenig mit dem Gärtner über das Pilgern, die Motive, die Wege und welche Typen es schon hierher verschlagen hatte. Er ist in aller Frühe schon beim Gießen, obwohl der Himmel bedeckt ist, die Sonne scheint nur fahl durch die Wolken. Ich befürchte, dass heute noch genügend Wasser von oben kommen wird.

Nach dem guten Frühstück verabschiede ich mich von meinen netten Tischnachbarn, die mich herzlich zu einer Pilgerwanderung im Oktober von Köln nach Trier einladen. Noch einen kurzen Blick in die Kirche und dann geht es bergab. Beim Gasthaus Gambrinus erkennt mich die freundliche Wirtin von gestern und winkt mir zu.

Der Weg von Röderhof durch den Wald nach Mönchhai ist einsam. Mönchhai ist eine kleine Ansammlung von etwa 10 Häusern und einem Betonwerk mitten im Wald, erreichbar nur über einen schmalen Plattenweg. Hinter dem Ort beginnt ein schattiger Schotterweg durch den hohen, dichten Wald nach Wilhelmshall. Eine eigenartige Atmosphäre empfängt mich: eine Reihe großer, mehrstöckiger Gebäude aus rotem Klinker, sehr schön gemauert mit reichen Verzierungen, aber schon teilweise verfallen, zum Teil noch bewohnt. Das Ensemble wird von einer hohen, roten Klinkermauer umschlossen. Was war das hier einmal? Fabrik? Klinik? Forschungslabor? Wohnung? Das Tor steht offen, ich gehe hinein weil mich ein Fliederbusch lockt und weil ich hoffe, etwas über Wilhelmshall zu erfahren. Ein Mann in meinem Alter kommt raus, er hat mich gesehen, Fremde sind hier selten. Das war früher eine Lungenheilanstalt, sogar mit Bahnanschluss. Direkt neben der Anstalt wurde ein Kalibergwerk betrieben, zwei Förderschächte stehen noch im Wald, sind aber inzwischen zugewachsen. Vielleicht nutzte man das Klima im Salzstollen als Aufenthaltsort für Lungenkranke? Er weiß es nicht.

Ich stecke mir den Flieder an und gehe weiter nach Huy-Neinstedt. Unterwegs treffe ich Gruppen junger Männer mit Bierflaschen in der Hand und größeren Vorräten im Handkarren: Herrentag. Auch einige schön herausgeputzte Planwagen, Pferdekutschen, Fuhrwerke kommen entgegen, das junge Volk obenauf grüßt feucht-fröhlich. Unterwegs werde ich gefragt, wohin ich laufe. Als ich mein Ziel Saarbrücken angebe, ernte ich brüllendes Gelächter. Ja, dann solle ich aber da vorne aufpassen und rechts abbiegen, sonst käme ich nach Rom.

In Huy-Neinstedt verlasse ich den vorgesehenen Wanderweg über Badersleben. Der Alte von Wilhelmshall hatte mir einen direkten Feldweg nach Dardesheim beschrieben, den ich auch finde. Ich erreiche ohne jede Orientierungshilfe nach etwa 1,5 Stunden mein Zwischenziel. Hier in Dardesheim fängt es zum ersten Mal leicht zu tröpfeln an. Ich setze mich trotzdem an den Dorfteich, essen meine Stullen. Bei dem Gang durch das Dorf steigt mir Bratenduft aus manchen Häusern in die Nase, das macht mich ein wenig traurig, weckt Erinnerungen an schöne Zeiten, Sonntagmittag im Kreise der Familie…

Und dann geht es los: für mich und den Himmel. Insgesamt 10 Kilometer laufe ich über Deersheim  nach Osterwieck im Regen, was für ein Regen! Die Autos rasen an mir vorbei, denn wer lässt schon gerne einen nassen Wanderer in sein schönes, trockenes Auto einsteigen?

Als es endlich aufklart bin ich schon in Osterwieck. Der Brocken ist jetzt in der klaren Luft ganz nah zu sehen und gut zu erkennen mit seinen Gipfelaufbauten. Die Zimmersuche zieht sich, ich laufe durch den Ort kreuz und quer von einer Adresse zur anderen, alles besetzt. Es hilft nichts, ich muss ins beste Haus am Platz, ein 3-Sterne-Hotel. Das ist das Geld aber auch wert. Ich wasche meine Sachen aus, hänge alles zum Trocknen auf, mache mich landfein und gehe raus, Bilder vom Ort schießen. Noch einen Absacker im Hotel, und dann ab in die Falle.

22.05.2009    Osterwieck - 25 Km - Goslar - (20 Km) - Clausthal-Zellerfeld        (137 Km)
Im Hotel liegt eine Foto-Postkarte von 1922 aus, auf der das Hotel an einem Hafen abgelichtet ist, ein Segelschiff davor, mitten im Harz! Die Wirtin erklärt, dass es sich um eine Trickaufnahme handelt, eine Fotomontage, mit der der damalige Wirt Werbung für sein Haus machte. Es sind aber auch echte Fotos aus 1996 zu sehen, die zeigen den Zustand des total zerfallenen Hauses nach der Wende, als die Wirtin und ihr Mann das Haus kauften, um ein feines Hotel daraus zu machen, was ihnen vortrefflich und sehr stilvoll gelungen ist.

Ich verlasse Osterwieck nach Westen und überschreite die Ilse. Die Ilse! Welche romantischen Phantasien sie damals in mir weckte, als ich - noch als Jugendlicher - Heinrich Heines Harzreise las. Heute stehe ich hier und suche in meinen Erinnerungen nach verschütteten Fragmenten der Reisebeschreibung:

Auf die Berge will ich steigen
Wo die dunklen Tannen ragen
Bäche rauschen, Vögel singen
Und die stolzen Wolken jagen.

Lebet wohl, ihr glatten Säle!
Glatte Herren! Glatte Frauen!
Auf die Berge will ich steigen,
Lachend auf euch nieder schauen.

Hinter Lüttgenrode erreiche ich die ehemalige innerdeutsche Grenze, die Zonengrenze, wie wir Wessis sagten, antiimperialistischer Schutzwall nannten sie die Ossis. Mein Gott, wie unspektakulär das heute aussieht: Nichts zu sehen außer zweier Schilder: der Landkreis Harz verabschiedet sich, der Landkreis Goslar kündigt sich an, das war’s schon. Ich hatte mehr erwartet, mehr Geschichtsbewusstsein.

Ich erinnere mich noch gut an 1961, als ich mit meinen Eltern unsere ehemaligen Nachbarn in Wolfsburg besuchte und wir einen Abstecher nach Helmstedt machten. Diese Grenze, dieser bedrückende Grenzübergang, Angst und Schrecken verbreitend. Auf der anderen Seite der Grenze ein kleiner Ort, der sich in eine Bodensenke duckte, man konnte die Dächer der niedrigen Häuser sehen, aber keine Menschen, keine Tiere. Nichts zu sehen, nichts zu hören, tot, wie ausgestorben. Und jetzt diese Veränderung, diese Normalität, diese Selbst-verständlichkeit.

Willy Brandt machte den Anfang, machte den ersten Schritt auf die DDR zu, den ersten Kniefall in Polen. Die anderen Akteure waren Gorbatschow mit seiner Politik der Öffnung, Glasnost und Perestroika, die Gewerkschaft in Polen, der polnische Papst in Rom, die vielen Menschen in Leipzig und Berlin bei den Montagsdemonstrationen, Genscher auf dem Balkon der deutschen Botschaft in Budapest mit dem berühmtesten Halbsatz der Geschichte, und dann –ungewollt- Schabowski in der Pressekonferenz am Abend des 9.November 1989. Welch eine Entwicklung! Wie wohl die Jugend darüber informiert wird in der Schule oder im Elternhaus?

Auf meiner Karte ist ein Grenzdenkmal eingezeichnet, Aber es ist nichts zu sehen, auch kein Hinweis. So laufe ich weiter. Zehn Kilometer hinter Osterwieck bin ich in Vienenburg, die Zivilisation einer Stadt hat mich wieder eingeholt: Autobahn, Eisenbahn, verstopfte Straßen, Dönerbuden. Die Touristen-Information hat geschlossen, Touristen werden vermutlich nicht erwartet. In Vienenburg steht das älteste noch erhaltene Bahnhofsgebäude Deutschlands  von 1840.

Den Weg nach Goslar über Harlingerode und Oker muss ich mir öfters erklären lassen: das Ergebnis ist immer verschieden. Ich entscheide mich daher sicherheitshalber für den Weg parallel zur B241 entlang der Angelteiche. Anfangs ist das auch wunderschön, aber später bleibt nur die Bundesstraße, bis ins Zentrum von Goslar.

Nächstes Problem: alle preiswerten Privatzimmer, Pensionen oder Hotels in Goslar sind ausgebucht, auch die Jugendherberge. Einzig ein 4-Sterne-Hotel hat noch Platz: zu teuer für mich. Kein Bett in Goslar für mich zu haben! Glücklicherweise wohnt mein Neffe in Clausthal-Zellerfeld, er kann mich mit dem Auto abholen. Bis er kommt habe ich Zeit, durch die Stadt und über den Marktplatz zu schlendern. Ich besteige die 232 engen Stufen des Nordturmes der Marktkirche –mit Rucksack natürlich- und schaue von hoch oben auf die Stadt und hinaus ins Umland. Ich habe einen guten Blick auf den Marktplatz und die Kaiserpfalz. Und ich sehe, welche Berge mich demnächst erwarten…

Zurück auf dem Marktplatz traue ich meinen Augen nicht: das Ehepaar aus Hürth, das ich in Huysburg kennen lernte, ist hier, wir treffen uns zufällig und freuen uns riesig über unser unverhofftes Wiedersehen.

In Clausthal-Zellerfeld verbringe ich einen fröhlichen Abend mit der Familie meines Neffen in dem einsamen Haus abseits der Stadt, mitten im Wald. Hier habe ich auch Internet-Zugang und kann versuchen, das nächste Quartier vorzubestellen, ich will nicht mehr erleben, überall abgewiesen zu werden. Ich könnte von hier aus zurück nach Goslar fahren und wie geplant den Kaiserweg laufen. Oder von hier aus direkt nach Seesen oder nach Bad Gandersheim wandern, die Entfernungen sind nicht sehr unterschiedlich. Ich finde an diesem Wochenende weder in Seesen noch in Bad Gandersheim ein einziges freies Bett für den Samstag, überall sind Veranstaltungen an dem langen Wochenende. Ich bin gezwungen, einen Tag hier bei der Familie zu pausieren, kriege ein Zimmer für Sonntagabend in Bad Gandersheim und genieße die Gelegenheit, mich einen Tag zu erholen.

23.05.2009    Clausthal-Zellerfeld
Heute ist Familientag. Wir wandern zu einer Köte (eigentlich eine sehr einfache Köhlerhütte), in der ein Stempel des Harzer Wandervereins aushängt, und ich kann in meinem Pilger-ausweis dokumentieren, dass ich an der Prinzenlaube bei Clausthal-Zellerfeld bin.

24.05.2009    Clausthal-Zellerfeld - 30 Km - Bad Gandersheim        (167 Km)
Es ist schon früh warm, heute soll es richtig sonnig und heiß werden. Ich laufe über den Berg in Richtung Wildemann. Das kleine Dorf liegt tief unten im Tal, die Innerste windet sich hier in zahlreichen Kehren durch den Wald auf dem Weg zur Leine. Links und rechts geht es direkt steil hoch. Der Wanderweg über Münchehof beginnt gleich hinter der Kirche. Es ist so steil hier, dass man auch sagen könnte: er beginnt gleich über der Kirche. Es geht steil über eine Wiese nach oben über einen Bergrücken und dann wieder steil runter ins Tal zum „Keller“. Ab hier sind fast nur noch asphaltierte Wege, der Radsport dominiert im Harz, immer wieder kommen kleinere und größere Gruppen mit Rennrädern oder Mountainbikes.

Hinter Münchehof steigt es wieder an nach Kirchberg und Idehausen, weiter geht es nach Harriehausen. Auf dem Fußballplatz spielt gerade der Ortsverein und ist zur großen Begeisterung der zahlreichen Zuschauer am Gewinnen! Ich stärke mich an der Wurstbude. Wenig später treffe ich einen  - wie sagt man: Tippelbruder? Ein gut aussehender Mann um die 40, in zerfetzter Hose und Hemd, darüber ein dicker, langer Wintermantel, die nackten Füsse in zerrissenen Sandalen, und eine Aldi-Tüte für seine wenigen Habseligkeiten in der Hand. Er ist ebenfalls unterwegs nach Bad Gandersheim, aber ich gehe viel zu schnell für ihn.

Irgendwann komme ich ausgepowert und mit steifen Beinen in Wrescherode an, ein Vorort von Bad Gandersheim. Ich muss erst durch die ganze Stadt ans andere Ende zum Kloster Brunshausen, dort wartet ein schönes, großes Zimmer auf mich. Ich mache mich wieder frisch und laufe wie aus dem Ei gepellt in die Altstadt zurück, erstehe einen Stempel bei der Kripo, alle anderen Behörden haben geschlossen. Dann lasse ich es mir bei einem Italiener gut schmecken. Heute war es anstrengend auf meiner Wanderung durch den Harz, über Berg und Tal auf steilen Wegen und bei großer Hitze, ich war ziemlich geschafft. Aber jetzt – ich sitze beim Italiener und schreibe – geht es mir wieder mächtig gut! Pasta e vino, tutti bene! Bella Italia, tiamo!

25.05.2009    Bad Gandersheim - 35 Km - Dassel                (202 Km)
Bad Gandersheim ist u.a. auch bekannt wegen seiner Skulpturenstraße, die Darstellungen ziehen sich durch die ganze Stadt. Auch im Klosterhof stehen viele davon. Mein Wirt hat neben dem Gästehaus eine Werkstatt, wo er selbst welche herstellt. Er ist nicht nur Eigentümer eines gut gehenden Cafés und Gästehauses, er ist auch Künstler. Er strahlt eine unbeirrbare Ruhe und Sicherheit aus, beneidenswert.

Ich laufe wieder durch die ganze Stadt hinunter, am Kurzentrum vorbei, wo in dieser frühen Morgenstunde bereits die Raucher vor dem Frühstückssaal auf der Straße stehen und qualmen. Eine Frau mit amputierten Beinen im Rollstuhl ebenfalls.

Ich finde den Weg hinaus aus der Stadt, leider muss ich auf der Bundesstraße laufen. Später geht es zwar auf einer weniger befahrenen Kreisstraße weiter, aber die Füße werden schnell heiß. Nacheinander durchlaufe ich die Orte Bentierode und Billerbeck, dann geht es hinunter zur Leine, die ich überquere, und von dort weiter über Ippensen und Garlebsen. Hier zeigt mir meine Karte eine Alternative zur Straße auf Feldwegen am Wald entlang über den Berg nach Negenborn. Von dort geht es durch den Wald und hinunter nach Einbeck.

Einbeck ist eine quirlige Stadt. Die Fußgängerzone ist voller Menschen, die Straßencafés sind gut besucht. Ich setze mich ebenfalls in die Sonne bevor ich mir die schönen Fachwerkhäuser in der Innenstadt genauer ansehe.

Ich habe noch 15 Kilometer vor mir, ich muss weiter. Über Markoldendorf schleppe ich mich mit bleischweren Füßen bis nach Dassel.

Dassel ist recht überschaubar. Auf meinem Weg durch den Ort war ich an dem Zentrum vorbei gelaufen und schon wieder draußen. Also wieder zurück. Ich finde dann doch noch hübsche Straßen, Plätze und Häuserfassaden, die die Stadt attraktiv machen. Man muss nur etwas genauer hinsehen. Nicht so hastig, junger Freund! An der Kirche zeigen die sogenannten „Hungersteine“ die extreme Verteuerung von Mehl während des 30-jhrg. Krieges. Was wird uns die Zukunft noch alles bringen?

26.05.2009     Dassel - 32 Km - Höxter                        (234 Km)
Heute soll es regnen, Gewitter und Sturm sind angesagt. Ich mache mich regenfest und schon früh auf die Socken. Noch in der Stadt tröpfelt es bereits. Auf dem Weg nach Silberborn muss ich 360 Höhenmeter überwinden und schwitze mächtig unter meiner Regenjacke. Ab dem CVJM-Haus geht mein Weg am Hang der Großen Blöße entlang, fast eben und ausschließlich durch den Wald. Dies ist der schönste Weg seit Beginn meiner Wanderung vor 9 Tagen. Zum ersten Mal bin ich auf einer Strecke von 12 Kilometer ausschließlich im schönsten Wald. Ich bin im Solling, einem Bergrücken östlich des Weserberglandes.

In Silberborn mache ich einen kurzen Besuch in der Dorfkirche und laufe weiter nach Neuhaus im Solling. Nach der Ortsdurchquerung geht es nur ein kurzes Stück auf der Landstraße nach Boffzen, bevor ich wieder im Wald verschwinde und auf Höxter zulaufe. Weitere 12 Kilometer Wald liegen vor mir. Ich bin - wie jeden Tag - absolut alleine unterwegs, aber hier im Wald wirkt es intensiver, wird es mir stärker bewusst. Vielleicht spielt auch der immer wieder einsetzende Regen dabei eine Rolle. Aber ich bin sehr gelassen, sehr ausgeglichen, es geht mir ausgezeichnet, ich vermisse nichts und niemanden. Ich bin sehr zufrieden, ja heiter. Und ich denke an einen Spruch von Hermann Hesse, den ich in Magdeburg gelesen habe:

        Heiterkeit ist weder Tändelei, noch Selbstgefälligkeit,
        sie ist höchste Erkenntnis und Liebe,
        ist Bejahen aller Wirklichkeit,
        Wachsein am Rande aller Tiefen und Abgründe.
        Sie ist das Geheimnis des Schönen
        Und die eigentliche Substanz jeder Kunst.

Nach kurzem Aufstieg hinter Neuhaus auf 460 Meter Höhe geht es ununterbrochen bergab ins Tal der Weser. Das macht meinen Sehnen in der linken Kniekehle zu schaffen, sie schmerzen. Heute Morgen, beim steilen Anstieg hinter Dassel ist mir vermutlich eine Sehne oder ein Band vorne oberhalb der Kniescheibe gerissen. Es gab einen Knall und ein heftiger Schmerz wie ein Peitschenhieb, dann ging es wieder, ich hatte keine weiteren Beschwerden danach.

Eingangs Höxter mache ich meine erste Fehlentscheidung, was einen Umweg von etwa 2 Kilometer zur Folge hat, nicht besonders tragisch. Aber dann komme ich in Höxter an, bewundere die schöne Altstadt und die Fachwerkhäuser mit den reich verzierten Giebeln. Ich setze mich auf den Markt und genieße einen Kaffee, bevor ich mich auf den wirklich außerordentlich steilen Weg zur Jugendherberge aufmache.

27.05.2009    Höxter - 35 Km - Bad Driburg                    (269 Km)
Der Aufenthalt in der Jugendherberge gestern Abend war todlangweilig, ich war der einzige Gast, Grabesruhe im ganzen Haus.

Heute bin ich etwas später als sonst auf dem Weg, die Sonne steht schon hoch, es ist bereits sehr warm. Gleich zu Beginn muss ich einen Alten nach dem Weg fragen, war mal wieder falsch abgebogen. Der Alte ist schon 80 und noch mit der Motorsäge im Wald zugange, total fit und lebendig. Gestern traf ich einen 73-jährigen im Wald mit seinem Hund, beide total drahtig, sportlich, schlank. Er lief so schnell, dass ich kaum mitkam. Die Leute hier im Weserbergland leben gesund, so scheint’s.

Der Fernwanderweg X16 ist nicht gut ausgeschildert, dafür gibt es aber viele örtliche Rundwanderweg-Markierungen, welche nicht auf der Karte des Landesvermessungsamtes von NRW eingetragen sind. Total unbefriedigend für Fernwanderer. Die Einheimischen kann man nicht fragen, die wenigsten kennen den Fernwanderweg. Außerdem: hier ist das Land der Gebrüder Grimm! Nicht alles glauben, was man so hört…

Auf der Höhe von Bosseborn weht ein eisiger Wind, der Himmel ist bewölkt, aber es sieht nicht nach Regen aus. Ich ziehe mich warm an, dem Ratschlag meines Arztes folgend:   

Trinken, bevor man durstig ist,
Essen, bevor man hungrig ist,
Rasten, bevor man müde ist,
Warm anziehen, bevor man friert.

Hinter Bosseborn geht es fast zwei Stunden durch den Wald auf zum Teil sehr schlechten, schmalen, seit langem nicht mehr begangenen Pfaden. Dunkles Dickicht wechselt sich ab mit Licht durchfluteten Abschnitten, in denen das Laub in den Baumkronen leuchtet, es ist wundervoll. Am Forsthaus Modexen geht es vorbei zu dem winzigen Weiler Hainhausen. Der Weg X16 führt danach stellenweise durch brusthohe Brennnessel, von einem Pfad oder gar Weg ist oft nichts zu erkennen. Dann wieder schöne Augenblicke: im lichten Wald hüpft leichtfüßig und völlig geräuschlos ein Reh links voraus, ganz nah bei mir. Ein Hase hoppelt in wilder Flucht. Am nördlichen Rand von Brakel erreiche ich den Gutshof Hinneburg. Eine Figur des hl. Nepomuk beschützt den Übergang auf der schmalen Brücke über die Brucht. Später, nach der Unterführung unter der B252 hindurch, führt der Weg wieder in den Wald. Fast zwei Stunden geht es bergauf auf die Emderhöhe, von der es dann – meist auf der Kreisstraße – hinab nach Bad Driburg führt. Nach insgesamt 8 Stunden bin ich im Kurpark und im Zentrum, hole mir in der Touristinfo einen Stempel und Stadtplan, und finde leicht mein Privatquartier. Heute kaufe ich mal richtig gut ein, zum Abendessen und für morgen gleich mit.

28.05.2009    Bad Driburg - 21 Km - Paderborn - (4+6 Km) - Borchen    (290 Km)
Es regnete wieder mal die ganze Nacht, es regnet auch noch am Morgen, als ich loswandere, ein richtiger Landregen. Ich finde leicht den Aufstieg auf den Knochen, sehr steil, sehr mühsam. In der Regenausrüstung schwitzt man, eigentlich könnte man alles im Rucksack lassen, man wird sowieso nass. Oben auf der Höhe verläuft ein sehr schöner, breiter Waldweg vorbei am Max-und-Moritz-Brunnen, hinein in das Tal der Beke, hinunter nach Altenbeken. Ich schaue mir den Ort an, die Kirche, die vielen Heiligendarstellungen im Ort, sehr katholisch, man spürt den Einfluss von Paderborn. Vorbei geht es an dem beeindruckenden Viadukt in Richtung Neuenbeken auf dem Radweg entlang der Beke. Es regnet immer wieder mal, mehrmals ziehe ich mich um, die Huschen werden wieder häufiger. In Neuenbeken sind die Wanderschuhe durch und durch nass. Ich hätte sie in den letzten Tagen mal wieder waxen sollen. Am Ortsausgang von Neuenbeken nehme ich dann endlich den Bus nach Paderborn, ich bin es leid im Dauerregen zu laufen, das muss ich mir nicht antun. Wem will ich etwas beweisen?

Ich gehe bei strömendem Regen durch die Domstadt. Schade, ich hatte mich so darauf gefreut, aber jetzt bei diesem anhaltenden und starken Regen habe ich nur ein begrenztes Interesse für die Stadt. Ich gehe in den Dom um mich ein wenig umzusehen und zu trocknen, folge einem Führer, der mir das Paderborner Paradoxon im Hasenohr-Fenster zeigt. Na ja, mein lieber Paderborner, darauf bist du stolz? Da hat die Stadt aber sicher viel mehr zu bieten – wenn die Sonne scheint…

In der Jugendherberge habe ich zwar kein Zimmer bekommen, aber Post: hierher ließ ich mir die Wanderkarten und Bücher für den Streckenabschnitt Paderborn-Köln schicken, hier werde ich meine bisherigen Unterlagen wieder nach Hause zurück schicken. So spare ich etwa 1 Kg Gewicht.

Zum Fotoschießen regnet es zu stark. Ich bin platschnass. Ich gehe zum Busbahnhof und lasse mich nach Borchen fahren, etwa 6 Km, wo ein schönes Zimmer auf mich wartet. Gegen Abend wird es trocken und sonnig. Hoffentlich wird das Wetter in den nächsten Tagen besser.

29.05.2009    Borchen - 40 Km – Rüthen                        (330 Km)
Heute wird es ein langer Tag werden bis zur JH in Rüthen-Möhnetal. Südlich von Paderborn werde ich zunächst auf dem Kriegerweg wandern.

Ich starte um halb Acht, es ist frisch, aber die Sonne scheint. Der Alme-Radwanderweg ist wunderbar zu gehen und eine Augenweide. Ich bin laufend am fotografieren. Vorbei geht es an oder durch Kirchborchen, Alfen und Niederntudorf zur Wewelsburg. Diese hatte im 1000-jährigen Reich traurige Berühmtheit erlangt, hier sollte die neue nordische Herrenrasse gezüchtet werden.

Als nächstes Ahden, dann ein kurzer Abstecher nach Brenken, wo ich mir beim Pfarrer der romanischen St.Kilians-Kirche einen Stempel hole. Ein älterer Mann aus Brenken erzählt, St.Kilian sei die älteste Kirche im Bistum Paderborn.

Als ich in Büren eintreffe, habe ich keine Kraft mehr, der Tag war heiß und anstrengend und die Strecke länger als ich aus der Karte abgemessen hatte. Eigentlich will ich irgendwo endlich mal was Warmes essen, das hatte ich zu selten in den letzten beiden Wochen. Aber der Weg nach Rüthen ist noch lange. Keine Zeit für eine längere Mittagspause. So schaue ich mir erst das Jesuitenkolleg und die dazugehörige barocke Jesuitenkirche Maria Immaculata an und bin fasziniert von der barocken Pracht der Deckengemälde und dem überreichlich vorhandenen Stuck im Innern.

Dann muss ich weiter, noch 15 Km in der Hitze. Die ziehen sich, nachmittags bin ich langsamer als mein üblicher Schnitt, ich brauche etwa 4 Stunden bis Rüthen. Ich finde zwar eine Abkürzung ins Möhnetal, komme aber erst um 18 Uhr an, über 10 Stunden für 40 Kilometer. Ich hatte in der JH vorbestellt, das war auch gut so, denn sie ist ausgebucht. Nach dem Duschen geht es mir wieder gut. Zum Abendessen in der JH genehmige ich mir ein Glas Rotwein: ich bin erschöpft, aber glücklich.

30.05.2009    Rüthen - 27 km – Eversberg                    (357 Km)
Kaffee als Erster und Einziger im Frühstückssaal einer Jugendherberge, bevor all die anderen herein stürzen: ein Privileg des Einzelreisenden, das ich richtig von Herzen genieße. Um kurz vor Acht gehe ich los, erst durchs Bibertal und dann hinauf nach Kallenhardt. Schon von weitem sehe ich die Barockkirche auf dem Hügel: da muss ich rauf. Für diese sieben Kilometer brauche ich fast zwei Stunden. Oben wird das Schützenfest vorbereitet, das morgen an Pfingstsonntag stattfinden wird. Heute Abend findet ein Blasmusikkonzert in der Kirche statt, dafür sind die Männer des Orchesters fleißig zugange und stellen vor dem Altar zusätzliche Stühle auf. Der Küster, den ich um einen Stempel bitte, lässt seine Arbeit ruhen und fährt extra für mich noch mal ins Dorf runter um den Schlüssel fürs Pfarramt zu holen, dort liegt der Stempel. Das Pfarramt ist in einem kleinen Zimmer des Kindergartens eingerichtet: aus Kostengründen, wie der Küster erklärt. Auch die Kirchen im Bistum Paderborn müssen sparen.

Dann geht der Weg wieder abwärts, am Rande eines riesigen Kalksteinbruches vorbei, auf Warstein zu, das im Tal der Möhne liegt. Die mächtige Kirche überragt die Stadt und ist schon von weitem zu sehen. War ich gestern noch über den Haarstrang gelaufen, so werde ich heute südlich der Möhne ins Sauerland kommen. Der Reihe nach erwarten mich in den kommenden Tagen die Naturparke Arnsberger Wald, Homert und Ebbegebirge.

In der Stadt kaufe ich reichlich Obst ein auf dem Markt neben der Kirche St. Pankratius und ruh mich im Schatten der Bäume aus. Dann geht es lange an der B55 entlang in Richtung Warsteiner Brauerei aus der Stadt hinaus.

Für den Weg nach Eversberg bieten sich drei Alternativen an, ich entscheide mich für die im Buch beschriebene Variante, leider ist es die längste. Beim Wandern um die Brauerei herum geht die Markierung verloren: es wurde in letzter Zeit viel neu gebaut, Straßen, Brücken, Bahntrassen, alles für die Brauerei. Beim Kunden- und Besucherzentrum geht es über einen großen Parkplatz, da wurde wohl auch Wald gerodet, und plötzlich ist die Markierung weg, ich kann suchen wie ich will. Ich gehe weiter in den Wald hinein in der Hoffnung, wieder auf den Weg zu stoßen, aber ich verlaufe mich, bin ohne Orientierung. Ich entscheide mich, einfach quer durch den Wald nach dem Kompass zu gehen und tatsächlich: nach einer guten halben Stunde treffe ich auf das „Russengrab“, ich bin wieder auf dem Weg! Ich gratuliere mir selbst.

Dann wieder mal runter zu einem Bach und wieder rauf zur Budeusbuche und weiter hinauf zum Warsteiner Kopf, 548 Meter hoch. Hier kreuzt mein Kriegerweg den Plackweg, der von Arnsberg nach Altenbüren führt.

Die Schutzhütte auf dem Warsteiner Kopf lädt zur Rast ein, bevor es dann ein letztes Mal runter geht nach Eversberg, wo ich in einer Gaststätte ein Zimmer bestellt habe. Die Wirtsleute sind schon etwas älter, ganz lieb, und wollen alles über meine Wanderung auf dem Jakobsweg wissen. Die Frau wird extra für mich morgen schon eine Stunde früher das Frühstück machen, ihr Mann will mich ein Stück in Richtung Meschede fahren, damit ich nicht an der Landstraße laufen muss. Ich hatte wieder mal viel Glück heute.

31.05.2009    Eversberg - (5 Km) - Meschede - 22 Km - Eslohe        (379 Km)
Am Morgen habe ich in der rechten Wade immer noch heftige Schmerzen, seit gestern Abend ist sie heiß. Ich befürchte eine Thrombose. Als ich mit dem Wirt darüber spreche, bietet er sich an, mich zum Krankenhaus nach Meschede zu fahren, wenn ich will. Ich will.

Es ist Pfingstsonntag, früh am Morgen, kein guter Termin für eine Arztvisite im Krankenhaus, ich muss lange warten. Die Ärztin schließt Thrombose aus, diagnostiziert Tendinitis, rät zu langsamen Gehen und kürzeren Etappen, lediglich 2-3 Stunden täglich. Wie ich dabei in diesem Jahr noch bis Saarbrücken kommen soll, verrät sie nicht.

Ich bin etwas beruhigt und mache mich auf den Weg nach Remblinghausen. Ich gehe über den Berg, die Alternativroute am Hennestausee wäre zwar schöner – aber auch länger gewesen. In Remblinghausen ist gerade Messe in der St.Jakobuskirche, sie ist bumsvoll, alle gehen zur Kommunion. Ich bin an meine Kindheit erinnert. Das Schlusslied kenne ich noch und singe kräftig mit. Ich suche den Pfarrer in der Sakristei auf, einen Stempel kann er mir leider nicht geben, abgeschlossen, keinen Schlüssel parat. Und so was passiert mir ausgerechnet in einer Jakobuskirche!

Hier in Remblinghausen wohnt ein Ehepaar, welches ein Buch über den Heidenweg und die Jakobspilger im kurkölnischen Sauerland veröffentlicht hat. Einige Leute vom Sauerländischen Gebirgsverein sprechen mich nach dem Kirchgang an und ich kann bei ihnen anmerken, wie schlecht – bzw. völlig absent – die Markierung seit Eintritt ins Sauerland ist. Man kann nicht nach den Weisungen meines Buches wandern, die Freizeitkarte von NRW ist ebenfalls nicht aktuell, da die Fernwanderwege nicht mehr an Bäumen markiert sind. Dort wo sie noch zu sehen waren, wurden sie überpinselt. Was soll das?

Nach kurzer Rast geht es weiter. Meist führt mein Weg über Radwanderwege, gelegentlich auch über holprige Pfade am Hang, immer abseits der B55, die nicht stört in der Ferne im Tal. Über Herhagen und Reiste komme ich nach Bremke, wo ein letzter Aufstieg auf mich wartet, dann komme ich in Eslohe an.

Ich habe mir heute richtig viel Zeit genommen, habe viele Pausen gemacht, es hat mir richtig gut getan. Meine Wadenschmerzen klingen ab. Ich konnte die Wanderung durch das schöne Sauerland sehr gut genießen. Ich nehme mir vor, in den nächsten Tagen mehrere kleine Etappen zu machen.

In Eslohe muss ich warten bis meine Gastgeber heimkommen, in der Zwischenzeit sitze ich vor einer Eisdiele in der Sonne und genieße die Ruhe und schreibe. Drinnen wird inzwischen hinter der Theke mein Handy aufgeladen.

Mein Zimmer ist sehr gut, das Haus ist sehr gepflegt, die Leute hier möchten, dass sich ihre Gäste wohlfühlen. Ich bin hoch zufrieden. Nach einem Bummel durch das kleine Städtchen setze ich mich in den Hof der Domschänke und genieße mein Abendessen. Hier wird noch eigenes Bier gebraut. Zwei Ehepaare setzen sich zu mir an den Tisch, ignorieren mich völlig, kein Blick, kein Gespräch kommt auf, obwohl ich einige Versuche starte. Na ja, vielleicht ist Aufgeschlossenheit gegenüber Fremden nicht gerade das herausragende Wesensmerkmal der Sauerländer?

01.06.2009    Eslohe - 20 Km - Elspe                        (399 Km)
Das beste Frühstück seit Menschengedenken! Alle Wetter! Schade, ich kann nicht alles aufessen, was angeboten wird. Das Wetter ist auch heute wieder tadellos, sonnig, eine leichte, kühle Briese, sehr gut für mich zum Wandern. Mein Weg führt anfangs über Bremscheid und Isingheim.

Ich hatte schon mehrmals mit Leuten gesprochen, die mir erklärten, dass die Markierungen hier im Sauerland im Jahre 2007 nach dem verheerenden Orkan Kyrill alle geändert wurden. Die alten – wie sie im Buch und auf den Wanderkarten NRW notiert sind – wurden übermalt und durch Markierungen für lokale Rundwanderwege ersetzt. Die Orientierung ist an fast jeder Gabelung oder Kreuzung schwierig, oft brauche ich Hilfe. So auch hinter Isingheim auf dem Berg, bevor es nach Niedermarpe runter geht. Ich brüte gerade über meiner Karte, als ein Auto neben mir hält. Ein Mann steigt aus und erklärt, dass er wegen mir hier sei. Er sah mich mit der Jakobsmuschel auf dem Rucksack im Dorf und wolle sich bei mir über das Wandern auf dem Jakobsweg in Deutschland und Spanien informieren, er möchte ebenfalls in Spanien den Camino frances laufen. Wir unterhalten uns lange und ausgiebig, stellen eine Wesensverbundenheit fest. Freundschaftlich verabschiede ich mich von Norbert – so sein Name.

Der weitere Weg von Niedermarpe über Obermarpe nach Obervalbert ist reine Spekulation, ich richte mich oft nur nach der Sonne, einmal laufe ich 30 Minuten ohne Orientierung und Kontakt zu Menschen, komme aber trotz vieler Abzweigungen richtig in Obervalbert an. Das nächste Ziel, Haus Valbert besteht nur aus einem Gehöft, wo ich Tisch und Bank im Hof benutzen darf und meine Mittagspause abhalte. Die freundliche Bäuerin hat nichts dagegen.

Kyrill hatte vor zwei Jahren verheerende Schäden im Sauerland angerichtet. Große, zum Teil sehr große Flächen an den Berghängen sind verwüstet, kahl. Die Schäden sind enorm. Mittlerweile sind natürlich alle Stämme weggeräumt, aber große Flächen liegen brach, das tote Wurzelwerk ist stellenweise noch zu sehen. Ein erheblicher Anteil ist schon wieder aufgeforstet, fast ausschließlich Fichten soweit ich das sehe, die wachsen halt am schnellsten. Der Nachwuchs ist inzwischen 20-60 cm hoch. Die Schonungen sind aufwändig eingezäunt wegen des Wildes, das macht aber die alten Wälder unzugänglicher. Neue Wege sind angelegt. Durch Kyrill gingen auch Stämme mit Wegemarkierungen verloren. Die neuen Markierungen folgen einem anderen System, das man in den Karten nicht wiederfindet.

In Altenvalbert führt der Weg an einer kleinen Kapelle zu Ehren der Maria-Magdalena vorbei. Gleich hinter der nächsten Kuppe erblicke ich den Kirchturm der Jakobuskirche von Elspe, ein ruhiger Weg führt hinab. Hier in Elspe kreuzen sich zwei Altstraßen: die Römerstraße und die Heidenstraße, der ich ab hier bis Köln folgen werde.

Der Pfarrer wohnt in der „Residenz“, einem alten Fachwerkhaus, das sehr kunstvoll, sehr aufwändig mit Geldern des Bistums Paderborn restauriert wurde, einschließlich der stilvollen Inneneinrichtung und der Gartengestaltung. Elsper, die ich nach dem Weg zu ihm befrage, sagen neidlos: suchen sie einfach das schönste Haus von Elspe.

Elspe war durch den Schnittpunkt dieser Handels- und Pilgerstraßen einst ein Zentrum der Jakobusverehrung. Hier sammelten sich die Pilger vor ihrem weiteren Weg nach Köln, der von dort über Aachen oder Trier nach Santiago de Compostela führte. Elspe wird noch heute das „Santiago des Sauerlandes“ genannt.

Meine Privatunterkunft ist sehr familiär. Die Gastgeberin macht mir als erstes eine Kanne Tee und bietet selbstgebackenen Kuchen an. Ich bin sehr dankbar, zumal das Quartier preiswert ist. Das Haus ist alt, die Möbel und die gesamte Einrichtung ebenfalls, ein Sammelsurium, über Generationen zusammen getragen. Mir gefällt es sehr gut hier, auch wenn ich mir mehrmals den Kopf an den niedrigen Türrahmen stoße. Ich habe es wieder einmal sehr gut getroffen!

02.06.2009    Elspe - 20 km – Attendorn/Neu Listernohl            (419 Km)
Der Jakobsweg führt praktisch direkt an meiner Unterkunft vorbei. Schnell bin ich über den Elspebach und auf dem Weg am Hang, weit oberhalb der B55. Mein heutiger Weg wird kurz sein – wenn ich mich nicht wieder verlaufe. Kaum gedacht – schon passiert. In Grevenbrück ist der Weg nach Sankt Claas nicht markiert, die Beschreibung in meinem Buch ist ziemlich nichtssagend, ich komme vom Weg ab und laufe über Röllecken nach Sankt Claas, was aber kaum ein Umweg ist. Von dort geht es nach Dünschede. Dann ist aber wieder der Wurm drin: Ich folge einigen Muschelzeichen, dann sind sie wieder weg, die Markierungen des SGV helfen sowieso nicht weiter, ich stehe wieder mal im Wald. Es geht ewig lang bergauf, immer mit der Ungewissheit, dass ich vielleicht alles wieder zurück laufen muss. Oben angekommen, helfen aber die Schilder weiter und führen mich zur Burg Schnellenberg.

Eine Brücke über die Bigge führt mich direkt ins Zentrum von Attendorn. Auch diese Stadt lag im Schnittpunkt zweier wichtiger Fernstraßen: der Heidenstraße, die ich gekommen bin, sowie der Königsstraße, die von Frankfurt nach Lübeck verlief. Attendorn gelangte im 14.Jhdt zu höchster wirtschaftlicher Blüte und war bedeutende Hansestadt.

Die Pfarrkirche Sankt Johannes - auch Sauerländer Dom genannt - ist geöffnet und empfängt mich mit einer angenehmen Kühle. Das gotische Kirchenschiff wird von mächtigen Pfeilern aus grünem Sandstein getragen. An einem Seitenaltar ist eine Jakobusfigur zu bewundern. Ich setze mich noch für eine ausgiebige Rast auf den belebten Platz zwischen Kirche und ehemaligem Rathaus, betrachte das Treiben der Touristen und Einheimischen, dann mache ich mich auf den Weg nach dem 3 Km entfernten Neu-Listernohl. Ich musste dort ein Privatzimmer nehmen, da ich in Attendorn keine Zimmer in meiner Preisklasse fand.

Am Abend mache ich auf Anraten meines Wirtes noch einen kleinen Ausflug. Das Sauerland ist so reich an Stauseen, aber der Jakobsweg hatte mich bisher noch kein einziges Mal an einen heran geführt. Jetzt ergreife ich die Gelegenheit und spaziere zur nahe gelegenen Biggetalsperre hinauf. Das lohnt sich wirklich, der Ausblick geht weit über die große Wasserfläche und weit ins Sauerland hinein. Auf dem Rückweg kehre ich noch in ein Gartenrestaurant ein und genieße eine sauerländische Spezialität, bevor es in die Falle geht.

03.06.2009    Neu-Listernohl - (5 Km) – 22 Km - Meinerzhagen        (441 Km)
Vor Antritt der Wanderung hatte ich aus dem Internet für meine Etappen bereits mögliche Herbergen ermittelt. Diese Liste trage ich immer bei mir. Für Attendorn fand ich nur teure Hotels, weshalb ich auch eine Herberge im benachbarten Neu-Listernohl notierte und dazu schrieb: nur im Notfall! Umweg! Dieser vermeintliche Notfall trat nun gestern ein und wurde heute zum Glücksfall: der Herbergsvater fuhr mich mit dem Auto an den Wanderweg X6 bei Windhausen, sodass ich heute keine Landstraßen und keinen Umweg laufen muss. Auch den Aufstieg auf den Ebbekamm hat er mir damit zum Teil schon abgenommen. Danke!

Ich gehe den Kammweg, auch Höhweg genannt, über das Ebbegebirge. Dazu muss ich auf über 600 Meter aufsteigen. Das Wetter hat sich in der Nacht etwas verschlechtert, es ist wesentlich kälter geworden, nachts wird es Frost geben, tagsüber maximal 14 Grad. Ich bin ganz warm angezogen, hier oben pfeift der kalte Wind. Der Himmel ist bedeckt, aber gegen Mittag kommt doch gelegentlich die Sonne durch.

Hinter Windhausen, „Auf der Höhe“ bin ich infolge der mächtigen, 30-40 Meter hohen Fichten etwas gegen den Wind geschützt, aber leider besteht dadurch auch seltener die Möglichkeit zu einem Fernblick ins Sauerland.

Der Weg über die gesamte Strecke bis Meinerzhagen ist fantastisch ausgeschildert, man kann sich nicht verlaufen. Danke an die Zuständigen und die vielen ehrenamtlichen Helfer! An der „Spinne“ verzweigen 9 Wege, alle sind gut markiert!

In der Nähe steht ein 130 Meter hoher Sendeturm des ZDF, etwas weiter ein ebenso hoher des WDR. Dort steht auch der Robert-Kolb-Turm, der aber leider nicht bestiegen werden kann, da er zurzeit restauriert wird. Hier bin ich auf der höchsten Erhebung des Ebbegebirges, die Nordhelle (663 m).

Bis Nocken verläuft der Höhweg flach oder leicht abfallend. Immer wieder kommt man an Freiflächen vorbei, an denen Kyrill gewütet hatte. Da hat man dann aber auch die Möglichkeit, weit ins waldreiche Umland zu schauen. Unterwegs sind zahlreiche Schau- und Lehrtafeln aufgestellt, welche Informationen über Besonderheiten der Flora, Fauna und Meteorologie dieser Landschaft vermitteln. Eine Köte ist aufgebaut, wie ich sie schon im Harz kennen lernte, und eine Tafel erzählt von dem entbehrungsreichen Leben der Köhler.

Ab Nocken geht es steil abwärts, runter nach Meinerzhagen. Unterwegs sehe ich zwar einige Radwanderer, aber immer noch keinen einzigen Fußwanderer.

Die Jugendherberge hier ist voll und sehr lärmig. Die Kinder toben zu ihrer lauten Musik. Am Nachmittag sind sie dann alle ausgeflogen und ich bin alleine mit meiner inneren und äußeren Ruhe. Und im Einklang mit mir. Die Wanderung war wieder einmal so schön gewesen, heute.

04.06.2009    Meinerzhagen - 28 Km - Lindlar                    (469 Km)
Heute muss ich viel an der Straße entlang laufen. Es ist zwar nicht sehr hügelig, man kommt auch schnell voran, aber es ist auch nicht besonders schön zu gehen. Es ist kalt, ich habe fast alles an was mein Rucksack hergibt. Hin und wieder regnet es schwach. Die Sonne ist den ganzen Tag hinter den Wolken verschwunden.

Bis Marienheide sind es zehn Kilometer, die ausschließlich an stark befahrenen Straßen gelaufen werden müssen, selten gibt es einen seitlichen Radweg. Kurz hinter Meinerzhagen, beim Restaurant „Pot au feu“ verlasse ich das Sauerland und trete ein in das Bergische Land. Hier entspringt die Wupper, hier im Oberlauf wird sie allerdings noch Wipper genannt.

In Marienheide hole ich mir einen Stempel bei den Patres im Pfarrhaus neben dem Kloster. Hinter der Stadt werden die Straßen etwas schmaler und ruhiger, die Orte kleiner. Schloss Gimborn lasse ich links liegen, ich habe keine Lust ins Tal abzusteigen und wieder hinauf.

Hinter dem Kümeler Kreuz verlaufe ich mich wieder, aber total. Ich suche die Wege aus, die in meine Himmelsrichtung weisen, Süd oder West. Einmal macht mein Weg einen großen Bogen nach Norden und ich muss wieder einen Kilometer zurück bis zur letzten Gabelung. Irgendwann komme ich bei einem Bauernhof an und kann mich wieder orientieren. Verlaufen: ja, aber nicht weit ab. Durch Scheel und Frielingsdorf sind es wieder nur Dorf- und Landstraßen. Dann geht es weiter über den Timberg, steil hinauf und steil wieder runter nach Klause, wo ein Weg zur Jugendherberge sein soll, er ist aber nicht ausgeschildert. Ich muss erst ins Zentrum von Lindlar, und von dort wieder hoch zur Jugendherberge.

Sieben Stunden dauerte meine Wanderung, ich war schnell und locker unterwegs. Das Klima war rau, aber gut für Wanderer. Ich kriege ein Einzelzimmer. Beim Abendessen sitze ich mit einem Ehepaar (beide 72) aus München zusammen. Sie sind mit dem Rad unterwegs, haben Zelt, Kocher und Lebensmittel dabei, wollen aber heute mal den Komfort einer Jugendherberge genießen. Sie fahren jedes Jahr mit dem Auto in ein anderes Bundesland, packen dort ihre Räder aus und bereisen das Land zwei Wochen lang, dann geht es wieder heim. Nur gelegentlich nehmen sie Quartier, ansonsten übernachten sie im Zelt. Vor Jahren fingen sie im Norden, in Schleswig-Holstein an, mittlerweile ist NRW dran. Beide sind sehr gebildet, sprechen mehrere Sprachen und sehen aus, als ob sie sich auch eine Kreuzfahrt in den Antillen leisten könnten. Harte Burschen die beiden, alle Achtung.

05.06.2009    Lindlar - 9 Km - Engelskirchen - (40 Km) - Köln        (478 Km)
Nach dem Frühstück verabschiede ich mich von den beiden Münchnern und dem freundlichen Herbergspersonal. Ich werde heute nur bis Engelskirchen laufen, dort werde ich die Bahn nach Köln nehmen.

Der Weg führt von der JH durch den Wald den Berg hinab, immer parallel zum Horpebach und der etwas entfernten Landstraße. Der Weg ist stellenweise stark verwildert, mehrmals ist Klettern angesagt.

In Engelskirchen erhalte ich einen Stempel im Pfarramt, dann geht es zum Bahnhof. Der Zug kommt aus Marienheide, von dort kam ich gestern zu Fuß. Weiter geht es über Overath nach Köln Hbf, direkt neben dem Kölner Dom. Hier werde ich bereits erwartet. Herbert, ein lieber Bekannter aus glücklichen Tagen in Spanien empfängt mich und wundert sich, dass ich Raucher wäre. Ich verstehe nicht. Wieso das?? Na, weil ich doch den Aschenbecher dort hinten auf dem Rucksack habe: er meint die Jakobsmuschel. Wir lachen beide herzlich über den gelungenen Gag.

Für dieses Wochenende werde ich in einem Hotel in Frechen an der Stadtgrenze zu Köln übernachten. Um mein leibliches und seelisches Wohl sorgen sich rührend Herbert und seine Frau Anita in Frechen.

06.06.2009    Köln
Heute bin ich zu einer Stadtrundfahrt durch Köln eingeladen. Neunzig Minuten lang werden wir mit dem Doppelstockbus durch die Stadt kutschiert, lassen uns die Sehenswürdigkeiten zeigen und erklären. Da es regnet, machen wir keine Unterbrechungen, lassen uns nur umherfahren. Abends bin ich wieder bei meinem freundlichen Ehepaar in Frechen.

Hierher habe ich mir die Unterlagen für den letzten Abschnitt meiner Wanderung schicken lassen. Sehr viele sind es nicht mehr, da ab Köln weniger Landkarten erforderlich sein werden. Die Strecke wird besser markiert sein als bisher.

07.06.2009    Köln
Heute will ich alleine in die Stadt, die Höhepunkte von gestern noch einmal zu Fuß begehen und genauer ansehen, natürlich vor allem den Dom. Dort ist Gottesdienst, der Dom ist rammelvoll. Es ist Dreifaltigkeits-Sonntag. In der Predigt wird die Dreifaltigkeit erklärt, ich habe da so meine Schwierigkeiten, alles zu verstehen.

Nach einem ausgiebigen Stadtrundgang im -und trotz- Regen durch die Altstadt, die Schildergasse, die Hohe Straße, über den Heumarkt und den Neumarkt gehe ich ins „Früh“ zum Mittagessen, und dann wieder am Nachmittag zurück ins Hotel. Ich will für die Etappen durch die Eifel meine Quartiere voraus buchen, ab Köln werden mehr Pilger unterwegs sein, außerdem steht Fronleichnam bevor, dann könnte es wieder einmal eng werden für mich. Ich brauche über drei Stunden bis ich alle Unterkünfte bis Trier komplett habe. Morgen geht es endlich wieder weiter.

08.06.2009    Köln - (20 Km) - Brühl - 22 Km – Hausweiler            (500 Km)
Nach dem Frühstück fährt mich Herbert nach Brühl, so muss ich nicht durch die Vororte von Köln laufen.

Ich merke gleich: hier, zwischen Köln und Trier ist der Weg wesentlich besser ausgeschildert als ich es bisher erlebte. Hier ist ein viel begangener Pilgerweg, nicht nur für Jakobspilger. Der Weg von Köln nach Trier wird auch von Anhängern des hl. Matthias begangen. Und die Anhänger des hl. Willibroard laufen von Prüm über Waxweiler bis Echternach. Alle diese Orte sind Stationen auf meinem Weg.

Gleich geht es bergauf in die „Ville“ hinein. In Badorf komme ich an einer neuen Kirche vorbei, die 1995 dem hl. Jakobus geweiht wurde. Am Swister Türmchen -dem Turm einer ehemaligen Wallfahrtskirche- macht ein älteres Paar Rast. Sie laufen täglich etwa 20 bis 25 Km, sagen sie! Beide sind bereits 82 Jahre alt!! Beneidenswert fit, die beiden. Gute Wünsche rüber und nüber, und weiter geht’s. In Weilerswist hole ich einen Stempel beim Pfarrer von St.Mauritius, in dessen Kirche die barocken Figuren der hl. Jungfrauen Fides, Spes und Caritas stehen. Danach verläuft mein Weg etwa 7 Km an der Erft entlang bis Hausweiler, hier habe ich Quartier bestellt.

Auf dem Weg dorthin treffe ich zwei Grundschulklassen mit ihren Lehrerinnen. Die eine Klasse sucht Insekten, die andere macht das Alphabet durch mit Begriffen, die sie an der Erft entdecken. Die Lehrerin fragt gerade, welcher Buchstabe noch fehlt: das Jot, ruft einer der Knirpse. Ich rufe: Jakobsweg, Jakobspilger. Die Lehrerin ist begeistert und bedankt sich. Die Kinder verstehen nicht so recht und lassen es sich von der Lehrerin erklären.

09.06.2009    Hausweiler - 25 Km - Bad Münstereifel                (525 Km)
Mein Quartier hier nennt sich Hotel, die schlechteste Unterkunft auf dem ganzen Weg. Ich habe nur einen Wunsch: nix wie weg hier.

Es geht weiterhin der Erft entlang, immer der Quelle entgegen. In Euskirchen suche ich eine Bäckerei auf für ein richtiges Frühstück, um das von heute früh zu vergessen.

Beim Verlassen der Stadt sehe ich die ersten Pilger seit Berlin: Gerrit und seine Frau Marianne kommen aus Köln, seine Schwester Monika aus Hannover. Sie begannen ihre Wanderung am Wochenende in Köln und sind geübte Wanderer, die schon öfters in Spanien und Deutschland auf Jakobswegen unterwegs waren. Wir bleiben zusammen bis zu unserem Tagesziel in Bad Münstereifel. Die drei sind etwa um die 60 und legen ein flottes Tempo vor, ich versuche Schritt zu halten.

Heute gießt es wieder zeitweise in Strömen, es war ja gestern auch einen ganzen Tag lang trocken geblieben, man sollte nicht zuviel verlangen…

Gerrit will von jeder Sehenswürdigkeit und jedem Ort den wir durchwandern einen Stempel in die Pilgerpässe haben, mir reicht eigentlich einer am Etappenziel. Aber es sieht gut aus, wenn der Pass voller schöner Erinnerungen an die Pilgerwanderung ist.

In Bad Münstereifel ist natürlich ein Besuch bei Heino in seinem Café eine Pflicht, der wir gerne nachkommen. Er ist sogar persönlich anwesend und begrüßt jeden Gast. Selbstverständlich läuft ununterbrochen Musik von ihm. Gelegentlich wird ein Musikautomat in betrieb genommen, vermutlich durch Münzeinwurf: Heino und Hannelore als Puppen in Lebensgröße mit Gitarre und Schlagzeug werden lebendig und machen Musik. Mir graust es.

Die drei neuen Wanderkameraden sind in der JH untergebracht, ich wohne heute Nacht privat. Wir treffen uns aber noch einmal beim Griechen zum Abendessen und genehmigen uns einen Absacker.

10.06.2009    Bad Münstereifel - 22 Km - Blankenheim                (547 Km)
In meinem Quartier frühstücke ich gemeinsam mit Klaus, Jakobspilger aus Bonn. Er ist in meinem Alter und mit einer Art Rikscha unterwegs: ein kleiner Container oder großer Koffer, den er auf zwei Rädern am Schultergurt hinter sich her zieht. Klaus will bis Santiago, hierfür hat er 5 Monate geschätzt. Das Gefährt wiegt etwa 40 Kg mit Inhalt, er kann damit nur Straßen laufen, keine Waldwege. Obwohl er Fußgänger ist, muss er doch die Strecke für Radfahrer wählen, meist also Landstraße. Er wird sicher noch viel erleben auf seinem Weg, aber Klaus schafft das, er hat ein ruhiges, sonniges Gemüt und einen unerschütterlichen Glauben daran, dass es für alle Probleme auf dem Weg und in seinem Leben eine Lösung geben wird.

In der Nacht hatte es wieder einmal ausgiebig geregnet, aber heute Morgen ist es trocken, als ich losgehe. Gerrit und seine Frauen sind etwa eine Stunde hinter mir. Tagsüber regnet es immer wieder heftig, auch anhaltend lange, ich laufe trotzdem, habe keine Probleme damit, es ist nicht windig oder kalt. In den Trockenphasen ist Gelegenheit zu Aufnahmen in der Kalkeifel, so langsam wird es richtig hügelig. Es geht auf und ab, die Wege sind anstrengend und matschig.

Beim letzten Anstieg vor Blankenheim treffen Wanderweg und Radweg wieder zusammen, und – ich traue meinen Augen nicht – da kommt Klaus mit seiner Rikscha, zur gleichen Zeit an. Der große, etwas übergewichtige Klaus, mit seinem schweren Karren war genau so schnell unterwegs wie ich! Eigentlich eher noch schneller, denn ich startete vor ihm in der gleichen Herberge. Das sollte mir doch zu denken geben!

Wir laufen zusammen ins Zentrum und in die JH, Klaus hat dort ein Zimmer bekommen. Von da habe ich noch drei Kilometer bis zu meinem Privatquartier in Blankenheimerdorf, etwas abseits des Jakobsweges. Es geht nur bergauf. Die Wirtin macht mir einen Kaffee, stellt mir saftige Kirschen hin, macht mir ein Abendessen und bedient mich mit Bier: ich lebe wie im Schlaraffenland.

11.06.2009    Blankenheim - 26 Km - Kronenburg                (573 Km)
Beim Frühstück treffe ich Walter (70) aus dem Aargau in der Schweiz. Walter ist Maschinenbau-Ingenieur, aber er ist hier in Blankenheim zu einem Seminar, um eine Therapie zu erlernen. Seine Tochter hat eine Verletzung im Stammhirn, ist ganzkörperlich gelähmt. Die Therapie soll ihre Heilung bewirken. Die Grundlage zum Verständnis der Therapie ist die Quantenphysik. Durch Fingerkuppen eines Gesunden, die auf die Haut des Kranken klopfen, sollen Photonen freigesetzt werden, die aus dem gesunden in den kranken Körper gelangen. Die „richtigen“ Photoneninformationen sollen die „kranken“ Informationen verdrängen. Ich wünsche ihm so sehr den Erfolg. Wie verzweifelt muss man sein, um sich an eine solche Therapie zu klammern. Aber bekanntlich versetzt der Glaube ja Berge.

Als ich vor die Haustüre trete regnet es, wie die ganze Nacht schon und so wird es auch den ganzen Tag lang bleiben. Ich finde nach etwa zwei Stunden den Anschluss an den Jakobsweg, der von Blankenheim herauf führt. Heute geht es aus der Voreifel und der Kalkeifel in die Hocheifel. Fünfmal geht der Weg auf etwa 600 Meter hoch und wieder auf 200 Meter runter, das schlaucht total. Ich war selbst im Harz nicht so fertig wie heute. Die Leistung ist etwa 3 Km/h, ich habe den Eindruck, dass ich immer langsamer werde. An der Elbe waren es auf dem flachen Land noch 4,5 Km/h.

Die Landschaft hier ist so traumhaft schön und hügelig. Baumbestandene Wege führen durch die Felder, kleine Dörfer wechseln sich ab mit kleinen Wäldchen, die Gegend scheint menschenleer. Schade, dass das Wetter so schlecht ist. Ich schleiche durch den Regen, bin nass von oben bis unten, aber ich friere nicht, also ist mir alles egal, ich fühle mich gut. Und ich bin noch keinen Tag krank gewesen während der ganzen Wanderung!

Nach sieben Stunden bin ich 26 Kilometer gelaufen und total fertig, als ich in Kronenburg ankomme. Ich dusche ausgiebig heiß und kalt, gehe kurz essen und mache es mir im Salon meiner Unterkunft gemütlich. Ich wohne ganz stilvoll in einem alten Haus unterhalb der Burg. Sogar der Fernseher ist noch aus dem Mittelalter: 30-cm-Bildröhre. Und: er kann nur schwarz-weiss. Bunt wurde erst in der Neuzeit erfunden. Na ja, bei dem Programmangebot ist sowieso alles egal.

12.06.2009    Kronenburg - 26 Km - Prüm                    (599 Km)
Das Frühstück ist erschreckend geizig. Zwei Brötchen, zwei Scheiben Brot, drei abgezählte Scheiben Wurst, zwei Löffel Marmelade, das war’s. Die Wirtsleute lassen sich wohl aus gutem Grund nicht sehen.

Der Tag fängt bedeckt aber trocken an, und so bleibt es auch. Gelegentlich scheint die Sonne. Gerrit ruft an, sie sind im Anmarsch auf Kronenburg, wir treffen uns am Ortseingang, besichtigen das schöne Örtchen und die Einsäulenkirche, bevor wir ins Tal nach Kronenburgerhütte absteigen. Dort ist die Brigidakapelle sehenswert. Dann geht es gleich wieder steil hinauf auf den Steinert (639 m) und dann über den sehr schön zu laufenden Eifelhöhenwanderweg vorbei an Goldberg nach Ormont (Mont d’or = Goldberg). Wir haben soeben die Grenze zwischen NRW und Rheinland-Pfalz überschritten.

In Ormont machen wir unsere zweite Rast für heute. Nach dem Besuch der Kirche trinken wir in der Gaststätte nebenan einen Kaffee. Südlich des Dorfes sehen wir Reste des ehemaligen Westwalls, gesprengte Bunkeranlagen und Höckerlinien. Wir sind ganz nahe der belgischen Grenze in der Schneifel, nahe dem Hohen Venn. Hinter Gondenbrett geht es wieder bergab. Wir stärken uns in einer Kneipe und erfahren von der Wirtin, dass Klaus mit seinem Karren schon in Prüm sein wird. Er fällt halt überall auf mit seinem Gespann und seiner gelb-grün-reflektierenden Warnweste.

Es ist bereits 17 Uhr, wir haben für 20 Km etwa 8 Stunden gebraucht, mich hält es nicht mehr auf der Bank und laufe schon mal alleine voraus. Der Aufstieg nach Prüm ist anfangs ordentlich steil, dann kommt ein kilometerlanger mäßiger Anstieg, was auch nicht viel besser ist. In Prüm ist die JH ausgebucht, aber für Pilger gibt es immer eine Notlösung: Ich kriege ein Matratzenlager in einer Garderobe, in der Kammer nebenan ist Klaus. Wir freuen uns beide über unser Wiedersehen. Das Abendessen ist mäßig gut, Schnitzel-Pommes-Salat, nicht gerade mein Leibgericht. Hinterher setzen wir uns in der Rezeption an den Tresen der Bar – ja, so was gibt es auch in einer JH – und trinken noch einen. Und reden über Gott und die Welt. Gegen elf gehen wir ins Bett, wir hatten einen sehr unterhaltsamen Abend.

13.06.2009    Prüm - 26 Km - Pintesfeld bei Waxweiler                (625 Km)
Obwohl ich nur ein Notlager hatte, schlief ich tief und fest, der anstrengende Tag und der Rosé wirkten wohltuend. Nach dem Frühstück organisiert Klaus noch sein heutiges Nachtquartier beim Pfarrer in Waxweiler, dann gehen wir getrennt los. Keine Sorge, irgendwo werden wir uns bestimmt wieder per Zufall treffen.

In der mächtigen Kirche von Prüm – eher schon ein Dom – treffe ich Gerrit, Marianne und Monika. Die Küsterin schließt uns den Reliquienschrein auf: die Sandalen Jesu. Man kann sie nicht sehen, sie sind in den Prunkschuhen eines Papstes eingenäht. Sie erzählt, dass fast ganz Prüm einschließlich der Kirche im 2.Weltkrieg in Schutt und Asche gelegt wurde, aber die noch größere Katastrophe war die unbeabsichtigte Explosion von über 500 Tonnen Sprengstoff in einem Bunker oberhalb Prüms, kurz nach dem Krieg, also bereits in Friedenszeiten. Ein Unfall, bei dem der Rest von Prüm zerstört wurde und viele Menschen starben. Heute erstrahlen die Kirche und Prüm in neuem Glanz, alles ist wunderschön wieder aufgebaut. Das Gestühl und die Reliquie waren während des Krieges eingemauert gelagert und überlebten alles.
Beim Aufstieg hinter Prüm verabschiede ich mich wieder von meinen Freunden und gehe etwas voraus. In Rommersheim (romairo villa = Römerheim) mache ich Rast mitten im Dorf und die Drei schließen wieder auf. So kann jeder sein Tempo selbst bestimmen, aber man bleibt doch immer wieder in Kontakt.

Gemeinsam gehen wir auf ebenen Wegen durch sie „Schönecker Schweiz“, ein Tal mit steilen Felswänden links und rechts. Kurz vor Schönecken verlasse ich sie wieder und gehe bei strahlendem Sonnenschein durch das Tal der Nims, wobei gelegentlich steile Ab- und Aufstiege sich abwechseln, da die Talseiten gewechselt werden. Dann geht es unter der A60 hindurch und wieder einen endlosen mühsamen Anstieg ohne Rastmöglichkeit durch den Wald nach Lascheid, sehr anstrengend.

In Waxweiler hatte ich kein Zimmer bekommen, ich werde in dem Ortsteil Pintesfeld, etwas abseits des Weges, übernachten. So verlasse ich hinter Lascheid den Jakobsweg und laufe über Dackscheid. Erst ins Tal runter, wieder ganz den Berg rauf, wieder runter. Um 16 Uhr bin ich in Pintesfeld, kriege ein schönes Zimmer, viel zu trinken und ein warmes Abendessen von den Wirtsleuten. Später fahre ich mit ihnen nach Waxweiler in die Kirche, heute ist Samstag. Dort treffe ich – wie erwartet – Klaus. Er kennt die Liturgie nicht nur auswendig – er lebt sie. Klaus kam für diese Nacht in der Bibliothek des Pfarrers unter. Keine Dusche, kein Frühstück morgen früh, aber ein Dach über dem Kopf.

14.06.2009    Pintesfeld - 25 Km - Sinspelt                    (650 Km)
Ich habe starke Schmerzen im Knie, kann das Bein kaum bewegen, muss wieder mal eine Tablette nehmen. Schon beim Abstieg nach Waxweiler merke ich, wie die Gelenke sich lösen und ich schmerzfreier werde.

In Waxweiler sind umfangreiche Absperrungen, heute findet hier der Rheinland-Pfalz-Marathon statt, deshalb sind auch alle Quartiere übers Wochenende ausgebucht. Vorbei an der schönen Kirche St. Johannes der Täufer, in der ich gestern Abend war, geht es hinaus aus der Stadt durch den Wald nach Bellscheid, ein Weiler mit sieben Häusern und einer Kapelle zu den vierzehn Nothelfern. Dann wieder mal hinab ins Tal und wieder hinauf nach Krautscheid, der höchstgelegene Ort hier im Islek. In einer Gartenwirtschaft gönne ich mir ein Spezi. Dann in vielen Serpentinen  und an einer Motocross-Bahn vorbei hinab zum Wahlbach, und wieder hoch nach Windhausen. Dort übersehe ich eine Markierung, verlaufe mich und komme weit ab. Als ich meinen Irrtum bemerke, bin ich etwa zwei Kilometer vom Jakobsweg entfernt. Ich suche und finde den Anschluss, indem ich mich quer durch den Wald schlage, ohne Pfad. Ich stolpere durch dichtes Unterholz, krieche mit meinem Rucksack unter tief hängenden Zweigen durch und klettere über Baumstämme, aber es klappt. In Ammeldingen ist Sportfest, hier setze ich mich hin und unterstütze die Vereinskasse, indem ich von dem Angebot am Grill Gebrauch mache. In Plascheid mache ich schon wieder Rast, es ist schwülwarm, die vielen Auf- und Abstiege haben Kraft gekostet, ich nicke am Tisch mitten im Dorf ein.

Dann geht es aber wieder mit frischem Mut weiter und hinab nach Neuerburg. Die Aussicht auf die im Tal liegende Stadt ist atemberaubend. In der Eifel scheinen alle Städte untern im Tal zu liegen, oben auf den Höhen sind meist nur kleine Weiler oder Bauernhöfe.

Die Enz fließt malerisch durch Neuerburg, viele Brücken queren sie, beim Stadtpark sind mehrere kleine Wasserfälle, in denen die Kinder planschen. Die Kirche liegt natürlich wieder ganz oben, ich kriege einen Stempel vom Pfarrer, der gerade das Haus verlassen wollte: Glück gehabt.

Wieder runter zur Enz, dann wird es ganz hart: der Aufstieg auf dem Kreuzweg zur Kreuzkapelle ist äußerst steil. Er erinnert mich an den Camino duro, der war nur noch wesentlich länger. Oben angekommen, führt ein schöner, sonniger Weg hinab nach Sinspelt, wo ich in einem Hotel gutes Quartier habe. Die noble Zimmereinrichtung im Empire-Stil lässt erahnen, dass das Haus vielleicht auch schon einmal bessere Zeiten erlebt hatte.

15.06.2009    Sinspelt - 20 Km - Bollendorf                    (670 Km)
Gestern Abend öffneten sich die Schleusen des Himmels. Es regnete die ganze Nacht, es regnet noch am Morgen, es regnet ununterbrochen den ganzen Tag, ohne Unterlass. Aber wie!

Nach einem Kilometer bin ich nass bis auf die Knochen, Überall, auch in den Schuhen, steht das Wasser. In Mellendorf erfahre ich in der Kirche, dass Klaus etwa 1 Km voraus ist. Ich weiss, dass er nur Landstraße läuft. Der Fußweg geht eigentlich über die Hänge, aber bei diesem Wetter kann ich kaum aus der Kapuze schauen und habe Sorge, dass ich mich verlaufe. Außerdem will ich Klaus einholen. Also entscheide ich mich, ebenfalls den Radweg über die Straße zu laufen. Später werde ich erfahren, welch wunderbare Landschaft ich mir dadurch entgehen ließ.

Ich hole Klaus nicht ein. Er geht wohl wie immer strammen Schrittes unbeirrt seinen Weg, ich hinter ihm her ohne ihn zu sehen oder gar zu treffen. Alles an mir trieft vor Nässe. In Nusbaum kriege ich einen Stempel und muss höllisch aufpassen, dass mein Ausweis nicht nass wird.

Am Dorfeingang von Bollendorf laufe ich gerade an einer Bäckerei vorbei, als ich meinen Namen rufen höre: Klaus ist schon da und hat mich gesehen. Wie der Hase und der Igel: Ich bin schon da. Herzliche Begrüßung, aber Klaus will gleich weiter, er will heute noch bis Echternacherbrück.

Nach kurzem, steilem Aufstieg bin ich in der JH. Zum Abendessen freudige Überraschung: Gerrit, Monika und Marianne treffen ein. Sie gingen den Fußwanderweg und erzählen von den Sehenswürdigkeiten, die ich verpasst habe. Wir verbringen den Abend im Bistro bei Rotwein und guten Gesprächen, dann geht’s ins Bett. Die Sachen hängen derweil zum Trocknen im Heizungskeller, die Schuhe ebenfalls. Heute war der schlimmste Tag meiner Wanderung.

16.06.2009    Bollendorf - 23 Km - Welschbillig                    (693 Km)
Die Sonne scheint wieder über Bollendorf, heute soll es trocken bleiben. Wir gehen alle vier gemeinsam runter ins Dorf zur Kirche an der Sauer. Gerrit will unbedingt noch einen Stempel organisieren, ich habe schon einen, so gehe ich schon mal los auf der deutschen Seite der Sauer, auf schönem, schmalem Fuß- und Radweg. Die Sauer ist randvoll. In Weilerbach überquere ich den Fluss zur luxemburgischen Seite hinüber und laufe dort bis Echternach, wo mich ein schön herausgeputztes Städtchen mit bunter Fußgängerzone erwartet. Nach dem Besuch der Basilika setze ich mich vor einem Café in die Sonne und warte auf meine Wandergesellen.

Über die Brücke geht es nun wieder zurück nach Deutschland, nach Echternacherbrück, hoch über ehemalige Weinberghänge, vorbei an schönen Felsformationen, und wieder hinunter ins Tal nach Minden. Hier fließt die Prüm in die Sauer.

Wir verabschieden uns von der Prüm und steigen übers freie Feld 220 Höhenmeter hoch auf den Kimmelsberg. Hier stehen die Windräder wie gesät, der Weg geht mitten durch. Dann führt er wieder sanft hinunter nach Welschbillig. Marianne, Monika und Gerrit verabschieden sich schon zwei Kilometer vor dem Ort, sie zweigen zum Don-Bosco-Heim in Helenenberg ab und übernachten bei den Patres. Ich muss ganz ins Tal runter, durch Welschbillig hindurch und noch drei weitere Kilometer bis Trän laufen, dort ist das Jugendgästehaus, natürlich wieder mal hoch oben auf dem Berg.

Als ich endlich ankomme, ist Klaus da, wir freuen uns und trinken erst mal einen Begrüßungstrunk, den uns der Wirt spendiert. Der Wirt stammt aus Schmelz/Saar und ist Abiturkamerad des saarländischen Ministerpräsidenten Peter Müller. Das Haus und der Garten sind sehr liebevoll gestaltet, wir sind sehr zufrieden.

17.06.2009    Welschbillig - 20 Km - Trier                    (713 Km)
Obwohl ich vor Klaus starte, hat er mich in  der nächsten Ortschaft Höhn bereits eingeholt. Von da an gehen wir zusammen bis Trier, wir haben viel zu erzählen und viel Spaß.

In Kimmlingen entscheiden wir uns für eine Alternative, etwas steiler, etwas schlechtere Wegstrecke, aber kürzer. Klaus hat schwer zu kämpfen mit seiner Karre. In Butzweiler machen wir Rast, und zwar gleich zweimal: erst bei einer Bäckerei bei Kaffee und Kuchen, dann im Dorf auf einer Bank bei einer Flasche Viez. Wer nicht weiß, was das ist, kennt es vielleicht unter dem Namen Cidre, Apfelwein. Sehr gut für die Verdauung.

Wir sind im Dorf falsch gelaufen und müssen wieder zurück, den Berg rauf. Eigenartig: ich habe schon oft unterwegs Leute nach dem Weg gefragt, oft erhielt ich die Antwort: ja, dann fahren Sie erst so, dann fahren Sie so… Obwohl ich für jedermann als Wanderer erkenntlich bin, empfiehlt man mir das Fahren. Was anderes scheint schon gar nicht mehr denkbar…

Durch den Wald und übers Feld geht’s nach Lorich. Hier rät uns eine Bäuerin zu einer weiteren Abkürzung, wir sparen etwa einen Kilometer auf dem Weg nach Biewer. Dort gibt es eine Eckkneipe, an der wir nicht vorbei kommen, es ist so warm, so schwül, wir sind fix und fertig. Und außerdem: haben wir nicht zweimal eine Abkürzung genommen? Dann können wir doch auch zweimal einkehren…  Zwischendurch möchte ich in die Jakobskirche von Biewer, aber die ist geschlossen.

Über einen elend langen und langweiligen Uferweg zwischen Mosel und der Bahntrasse geht es dann nach Trier, wo wir uns trennen: Ich bin in der JH angemeldet, Klaus will es bei einem ihm bekannten Abt in St. Mathias versuchen.

Bei den gemütlichen Kneipen an der schönen Uferpromenade höre ich meinen Namen rufen: Gerrit und seine Holden sind schon da! Ja geht denn das mit rechten Dingen zu? Trotz all unserer Abkürzungen sitzen meine drei Freunde schon seit einer Stunde beim Bier im Schatten. Was mache ich bloß falsch?

Gerrit hat auch in der JH gebucht, wir machen uns gemeinsam auf den Weg. Am Abend gehen wir noch einmal in die Altstadt, um den Dom, die Porta Nigra und den Alten Markt zu besuchen. Wir finden ein schönes Eckchen in einer Gartenwirtschaft. Klaus ruft an, er hatte kein Glück mit seinem Prior, hat aber einen Platz bei den Nonnen gefunden. Ich nehme mit den Dreien noch ein letztes Glas Rotwein im Bistro der JH, heute ist unser letzter gemeinsamer Abend. Hier schenken sie mir ein Halstuch zum Abschied. Ich bin überrascht und gerührt. Danke, ihr Lieben, wir hatten eine schöne Zeit zusammen auf unserem gemeinsamen Weg. Sie werden noch zwei Tage in Trier bleiben bevor sie zurück nach Hause fahren. Ich werde morgen früh wie jeden Tag in den letzten viereinhalb Wochen aufbrechen und weiter laufen.

Den Weg bis Konz will ich mit Klaus zusammen gehen.

18.06.2009    Trier - 25 Km - Saarburg                        (738 Km)
Ich treffe mich mit Klaus auf dem Uferweg. Wir laufen etwa 10 Kilometer zusammen bis Konz, suchen im Ort die Markierung für seinen Weg, dann kommt der Abschied. Klaus wird der Muschel folgen nach Perl und weiter über Vezelai nach Santiago de Compostela. Er wird etwa 5 Monate unterwegs sein. Ich verlasse hier den Jakobsweg und gehe meinen eigenen Weg in meine alte Heimat. Ich habe nur noch drei Tage bis Völklingen. Wir verabschieden uns sehr herzlich. Ich bin froh, auf meinem Weg nach Trier so freundliche Menschen kennen gelernt zu haben.

Ich drehe mich wieder um, gehe zurück zur Saar, wo ich im Sauseschritt Saarburg erreiche, vorbei an Hamm und Kanzem, Schoden und so berühmten Weinlagen wie Ayl und Ockfen. Unterwegs machen mich freundliche Leute darauf aufmerksam, dass ich nicht mehr auf dem Jakobsweg sei, ich habe mich wohl verlaufen. Nein, ich bin auf dem richtigen Weg! Hier geht`s nach Saarburg und weiter nach Saarbrücken!

Bereits um halb Zwei bin ich bei der Touristinfo, buche ein Privatzimmer, storniere meine Reservierung in der JH, und ziehe bei einer gemütlichen, netten, alten, alleinstehenden Dame ein. Im Zimmer nebenan wohnt derzeit ein Russe, der ein Schiff auf der Saar betreibt. Also kein Kapitän „zur See“, sondern ein Kapitän „zur Saar“, wie meine Wirtin sagt.

Danach Stadtbummel in dem Städtchen, das ich schon so gut kenne von mehreren Besuchen in früheren Jahren. Die Attraktion ist natürlich neben der Burgruine der Wasserfall des Leukbaches mitten im Ort. Trotz des schlechten Wetters sind alle Tische der Straßenrestaurants links und rechts des Baches belegt. Jetzt sitze ich in einem feinen Weinlokal im Garten, direkt an der Saar und gegenüber von meinem Quartier, und bin sehr zufrieden.

19.06.2009    Saarburg - 28 Km - Orscholz                    (766 Km)
Meine Wirtin stammt aus Ostpreußen, eine Anthroposophin und Weltbürgerin, wie sie sich selbst bezeichnet. Doch schnell schickt sie hinterher: „Aber die Heimat bleibt eben doch die Heimat, nicht wahr?“

Sie macht mir ein ausgezeichnetes Frühstück auf einem reich dekorierten Tisch in ihrem übervoll mit Nippes geschmückten Wohnzimmer. Vor etwa zehn Jahren erwarb sie ihr schönes Haus im Hochwassergebiet unmittelbar an der Saar für sagenhafte 15.000 DM! Sie habe nur Kraft in das Haus gesteckt, und außer der neuen Tapete kein Geld. Durch die Zimmervermietung verdient sie sich etwas zu ihrer geringen Rente hinzu.

Um Acht bin ich wieder auf der Strecke, es regnet wieder mal von Anfang an. Gleich geht es steil hoch. Ich wandere auf dem Europäischen Fernwanderweg Rotterdam-Alpen. Das wäre doch auch einmal eine interessante Strecke für meine nächste Wanderung, oder?

Ich will unbedingt noch einmal an der Klause vorbei kommen, die auf einem Felsvorsprung hoch über der Saar bei Kastel-Staadt liegt. Hier hat man eine wunderbare Aussicht von hoch droben nach links und rechts in das Saartal hinein. Auch Jakobspilger müssen an der Klause Eintritt zahlen, die beiden Männer sind unerbittlich, obwohl sie allen Respekt zeigen vor meiner Wanderstrecke. Ich besuche den Sarkophag des blinden König Johann von Böhmen, dessen Leichnam aber mittlerweile in Luxemburg aufgebahrt wird, und genieße noch einmal die herrliche Aussicht, die auch bei leichtem Regen jede Mühe wert ist. Ein wenig bin ich an die Bastei im Elbsandsteingebirge erinnert. Dann beginnt der Abstieg auf dem Felsenweg in Richtung Alter Felsen und Hamm. Auf einigen Kilometern werde ich auch hier wieder an meine Wanderung im Elbsandsteingebirge erinnert, hier ist es fast genau so schön.

Bei Hamm verlasse ich die Saar und steige auf nach Taben-Rodt, und von dort über den Berg nach Weiten. Hier betrete ich das erste Dorf im Saarland. Der Regen hat seit der Klause nachgelassen, jetzt scheint sogar die Sonne. Ich komme ordentlich ins Schwitzen beim Aufstieg durch den Wald nach Orscholz. Oben angekommen, finde ich durch Zufall sofort mein Privatquartier, lasse meinen Rucksack dort und laufe unbeschwert zur Cloef, beschwingt, aufgeregt, erwartungsvoll, stolz, dass ich es geschafft habe. Hier war ich oft mit der Familie, mit unseren Kindern, mit Freunden. Jetzt bin ich alleine hier. Und doch bin ich stark genug, das zu ertragen, ja zu genießen. Die Sonne steht im Westen, gute Voraussetzung für Bilder von der Saarschleife.

Abends sitze ich bei meinen Wirtsleuten im Garten, erzähle von meiner Wanderung, höre mir ihre Eheprobleme an. Der Mann ist mit 45 Jahren bereits Vollrentner nach zwei Herzinfarkten. Die Frau geht arbeiten, damit sie ihn nicht den ganzen Tag ertragen muss. Trennung oder Totschlag, meint sie. Er erträgt sie nur mit Humor, sagt er. Wie doch der äußere Schein trügen kann. Bei so vielen Ehen.

20.06.2009    Orscholz - 24 Km - Siersburg                    (790 Km)
Die Regenwahrscheinlichkeit liegt unter 20%, meldet das Radio, gute Nachrichten! Die Wolken sind bedrohlich dunkel, aber es bleibt tatsächlich trocken. Ich gehe zur Cloef, noch ein letztes Bild von oben, dann steige ich den steilen Hang hinab zur Saar. Immer an der Saar entlang laufe ich über Dreisbach, drehe mich dabei öfters um, damit ich Aufnahmen von dieser wunderschönen Landschaft machen kann. Bei Besseringen laufe ich über die Brücke aufs rechte Saarufer, gehe zur Post und schicke alle meine Karten und Bücher nach Hause zurück. Ab jetzt brauche ich das nicht mehr, ich bin zuhause.

In Schwemlingen wechsele ich wieder zurück und bleibe auf dieser Seite bis Siersburg. Bei Merzig umrunde ich den Yachthafen. Irgendwo bei Fremersdorf verlasse ich den Saarwanderweg, um von der lauten A8 weg zu kommen. Ich laufe lieber auf dem Radweg neben der Landstraße nach Rehlingen, nehme dort die Abzweigung nach Siersburg. Der Weg führt unterhalb der Burg vorbei. Erinnerungen werden geweckt an die Zeit vor etwa 30 Jahren, als meine Schwiegereltern Rolf und Gertrud hier wohnten.

In Siersburg warten meine Bekannten Martha und Werner mit dem Mittagessen auf mich. Ich muss von der Wanderung erzählen, wir tauschen Erinnerungen an früher aus, aber dann geht es auch schon zu ihrem Ferienhaus in Itzbach. Das ist sehr gemütlich, sehr geschmackvoll, sehr geräumig, ich bin sehr zufrieden. Abendessen, Fernsehen, Saarbrücker Zeitung, fast alles wie früher.

21.06.2009    Siersburg - 20 Km - Bous - (5 Km) - Völklingen            (810 Km)
Heute ist mein vorletzter Wandertag. Werner holt mich früh ab und fährt mich zurück zur Saar, an die Staustufe von Rehlingen. Ein letztes Bild, dann fährt er wieder heim und ich stiefele los.

Erst laufe ich auf der Dillinger Seite bis zum Yachthafen, dann wechsele ich auf die linke Saarseite und laufe bis Saarlouis. Auf dem Weg in die Innenstadt komme ich an den Kasematten vorbei, an den Vauban-Festungsanlagen, zum Großen und zum Kleinen Markt, wo ich ein zweites Frühstück in der Sonne genieße. Von hier aus will ich nur noch durch die Innenstädte gehen, so hatte ich es schon vor der Abreise geplant, ich will „ankommen“.

Ich gehe durch Lisdorf hindurch, dann vorbei an den Gemüseanbauten an der Saar nach Wadgassen, dort über die Brücke beim Zind nach Bous. Es fängt wieder mal zu tröpfeln an. Ich will nicht mehr nass werden, nicht schon wieder alles umpacken und die Regensachen anziehen. Also ab auf den Bahnhof, in zehn Minuten kommt ein Zug nach Völklingen, da hinein und ab geht die Post. Völklingen, ich komme!

Völklingen empfängt mich feucht, ich muss nun doch den Regenschutz anziehen. Mir fallen sofort die vielen Blumenampeln und Blumenpyramiden auf, die in großer Zahl aufgestellt sind und das Stadtbild mit ihren bunten Farbtupfern verschönern. Beim Alten Rathaus, dessen Fassade immer noch schön aussieht, ist es hell und irgendwie anders, freier. Ich brauche ein wenig, um zu realisieren, dass der Seitenflügel vom ehemaligen Kaufhof abgerissen ist und die Sicht zur Unterstadt frei gibt. Schön ist das geworden, wirklich sehr schön! Hier hat sich was getan in den fünf Jahren, die ich weg war.

Mein erster Weg führt mich in das Restaurant La Pulia auf dem Heidstock, hier hatten wir uns vor fünf Jahren von unseren Freunden verabschiedet. Die Wirtin erkennt mich sofort wieder, ist sehr nett zu mir, und obwohl das Essen im Pulia schon immer sehr gut war, habe ich den Eindruck, dass ich heute besonders verwöhnt werde.

Dann endlich stehe ich vor meinem ehemaligen Haus. Ich kann es ohne große Emotionen betrachten, das war eine andere Zeit, die liegt hinter mir. Die Nachbarn Bodo und Liesel haben schon auf mich gewartet und einen Kuchen gebacken. Noch einen kurzen Abstecher zu den anderen Nachbarn Uschi und Rudi, unterwegs treffe ich auch Hanne und Klaus, dann klingele ich bei unseren Freunden Franz und Marlene, bei ihnen werde ich übernachten. Ich bin angekommen.
                                                                                                               Jürgen Breinig, 2009