Durch Zufall auf dem Camino Inv(i)erno

Text und Fotos: Anna Parisius


Von Mitte Mai bis Mitte Juli 2021 hatten mein Mann und ich Zeit, gemeinsam unterwegs zu sein und wollten auf der Via de la Plata pilgern. Da dies bis relativ kurz vor der geplanten Abreise nicht möglich schien und Übernachtungen in Deutschland noch nicht wieder erlaubt waren, machten wir eine Wanderreise auf die Azoren. Zu deren Ende hin überraschte uns eine in dieser Form dann doch nicht erwartete Quarantäneregelung, und es war nicht herauszufinden, ob wir nach Ankunft in Frankfurt (Hahn) überhaupt nach Berlin-Brandenburg weiterreisen dürften. Was also tun und sich doch regelgerecht verhalten? Nach einigem Hin- und Herüberlegen und Recherchieren entschieden wir uns, unseren ursprünglichen Plan teilweise wieder aufzugreifen und in der freien Zeit, die wir noch hatten, in Spanien zu pilgern. Wir hatten zwar Zweifel wie es im Juli im heiligen Jahr sein würde, ob es für unser Gefühl zu voll wäre auf dem Weg, um in Ruhe zu gehen und ob es Übernachtungsmöglichkeiten geben würde, in denen wir uns in Coronazeiten wohlfühlen würden? Das konnten wir im Vorfeld nicht herausfinden, aber wir beschlossen, es auszuprobieren.

 

Nur welchen Weg wollen wir überhaupt gehen? Von Strecke, Zeit und Erreichbarkeit her schien Ponferrada ein geeigneter Startpunkt und somit der Camino Frances. Beim Planen mit Komoot entdeckte Ralph, dass in Ponferrada ein uns beiden noch unbekannter Weg abzweigt, der Camino Invierno – galizisch Inverno –, also der Winterweg. Er verläuft etwas südlich des Camino Frances. Früher wurde er von den Pilgernden genutzt, die nicht in Ponferrada überwintern und warten wollten, bis der 1.337 Meter hohe O Cebreiro-Pass wieder schneefrei und passierbar war. Sie folgten dem Tal des Flusses Sil durch die Städte A Rúa und Quiroga, von dort aus hinauf nach Monforte, kamen durch Chantada, Lalín und Silleda, bevor sie Santiago de Compostela erreichten. Nachdem wir zumindest ein paar Informationen zu diesem Weg im Internet gefunden hatten, war uns klar, dass das unser Weg werden würde.

 

Gut gestimmt reisten wir also nach Santiago, wo wir im Seminario Menor übernachteten. Wir konnten erste persönliche Informationen von Pilger*innen sammeln und erfuhren, dass die meisten Herbergsküchen geschlossen sein sollten. Da wir gerne kochende Vegetarier*innen sind, kauften wir deshalb noch einen kleinen Gaskocher.

 

So ausgerüstet stiegen wir in den Bus und fuhren nach Ponferrada. Das überflüssige Reisegepäck konnten wir in Santiago in Schließfächern im Seminario Menor lassen. In der kirchlichen Pilgerherberge San Nicolas de Flüe erhielten wir Pilgerausweise. Zu zweit konnten wir allein ein 4-Bett-Zimmer beziehen. Das hatten wir vorher bereits telefonisch in Erfahrung bringen können. Unterwegs erfuhren wir, dass die generelle Regel lautete, dass 30 Prozent der Betten in Herbergen belegt werden dürfen.

 

In Ponferrada tauchten wir nun richtig in das Pilgerleben ein: Hier und da ein Austausch mit anderen Pilger*innen, abends eine Andacht im Garten der Herberge. Sie fand vor allem für eine Gruppe von jungen Pfadfinder*innen statt, aber alle anderen waren ebenfalls eingeladen. Auch ohne Spanisch zu können, bekamen wir mit, worüber der Priester sehr engagiert sprach. Es ging um die Parallelen des Pilgerweges mit dem Leben und dass es auf die eigene Haltung ankäme, wie mensch mit den Herausforderungen umgeht.

 

Am nächsten Morgen herrschte geschäftige Aufbruchstimmung in der Herberge und wir starteten mit vielen anderen Pilger*innen. Gleich in der Nähe der Herberge trennen sich Camino Frances und Camino Inverno. Wir sind die einzigen, die diesen Abzweig nehmen, betreten für uns Neuland, freuen uns auf die Pilgerzeit, sind gespannt, was uns begegnen wird. Vor uns liegen ca. 260 Kilometer, die wir in neun Tagen gehen wollen. Es ist bedeckt und wir folgen zunächst dem Sil, bevor es etwas bergiger wird. Durch die Weinberge des Bierzo läuft es sich gut. Mirabellen und Kirschen sind gerade reif und warten auf uns. Nach gut 30 Kilometern erreichen wir Puente de Domingo Flórez, wo wir uns in der Herberge Casa Rosa angemeldet haben. Bei unseren Recherchen sind wir immer wieder auf den Hinweis gestoßen, dass es ratsam wäre, Übernachtungsmöglichkeiten im Voraus anzufragen. Das erwies sich als gut, denn ansonsten hätten wir manchmal vor verschlossenen Türen gestanden, da nicht alle angegebenen Herbergen und Hostals geöffnet hatten.

 

An einer Kirche hatten wir unterwegs einen Spanier getroffen, der uns Verschiedenes zum Weg erzählte. Ansonsten war es eine einsame Etappe. Dass nur sehr wenige Pilger*innen auf dem Camino Inverno unterwegs sind und wir vermutlich nicht vielen begegnen würden, erzählte uns dann auch Agris, der Hospitalero. Er hat zusammen mit seiner Frau Dace im letzten Jahr das Casa Rosa eröffnet, das sie mit viel Liebe eingerichtet haben. Beide sind 2018 auf dem Camino Frances gepilgert und waren so beeindruckt von den Erlebnissen, dass sie sich vorstellen konnten, aus ihrer Heimat Lettland nach Spanien zu ziehen. Im folgenden Jahr pilgerten sie mit ihren beiden jugendlichen Kindern, die die Begeisterung ihrer Eltern teilten. Anfang 2020 war Dace einen Monat als Hospitalera in Villafranca und pilgerte anschließend auf dem Camino Inverno, um nach einem geeigneten Ort für die Familie und eine Herberge zu suchen. Und nun sind wir im Casa Rosa und genießen, was dort entstanden ist, erholen uns von der ersten Etappe und erzählen viel mit Agris, der schönerweise an diesem Tag viel Zeit hat.

 

Es ist Sonntag und es gibt im Ort weder etwas einzukaufen noch eine Einkehrmöglichkeit. Darauf waren wir aber vorbereitet, haben gestern bereits für das Abendessen eingekauft und werfen den Kocher an.

 

Nach einer guten Nacht erwartet uns zur verabredeten Zeit ein unglaubliches Frühstück im Essraum mit Tostada, Kuchen, Obst, Saft, Kaffee, Tee und einem Armbändchen mit einer kleinen Jakobsmuschel neben den Frühstückstellern. Eigentlich wollten wir unser mitgebrachtes Müsli essen, nur gerne Tee haben, hatten dies auch angekündigt. Angesichts dessen, was Agris und Dace vorbereitet haben zu unserer freien Wahl, sind wir ganz überwältigt und greifen gerne zu. Ob und wie viel wir geben wollen und können, überlassen sie uns – unglaublich. An Körper, Geist und Seele gestärkt vom Aufenthalt in dieser Herberge brechen wir zu unserer nächsten Etappe auf. Bald sind wir in Galizien, dessen insgesamt vier Provinzen wir auf dem Weg bis Santiago durchwandern. Es geht an Schieferbearbeitungsbetrieben vorbei, an vielen herrlichen Picknickplätzen am Wasser und durch recht verfallene Dörfer. Überall ist der Weg hervorragend und frisch gezeichnet, so dass es nicht viel Aufmerksamkeit braucht, um ihm zu folgen. So können die Gedanken schweifen oder einfach mal Pause machen. Nach der Mittagsrast überqueren wir den Sil und plötzlich finden wir keine Markierungen mehr. Dieses Phänomen erleben wir in den folgenden Tagen noch ein paar Mal an Stellen, an denen der Camino umgelegt worden ist. In diesen Momenten sind wir froh über ein Navigationssystem.

 

Am nächsten Morgen treffen wir gleich nach dem Aufbruch am Ortsausgang von A Rúa den ersten Mitpilger auf dem Camino Inverno. Bis Santiago treffen wir ihn immer wieder, freuen uns allseits bei jeder Begegnung, nur haben wir leider keine gemeinsame Sprache für ein intensiveres Gespräch. Das ist die Kehrseite der Ruhe, die wir erleben und das Einzige, was wir auf diesem Pilgerweg vermissen: Den Austausch mit anderen Pilger*innen.

 

Die Etappe nach Quiroga führt lange über eine ehemalige Bundesstraße, also viel Asphalt, auf der aber kaum mehr Verkehr ist. Wieder geht es durch ein paar verlassene Dörfer und über viele Kilometer hat jemand allerlei Malereien aufgehängt. Insgesamt jedoch ein Abschnitt mit wenig Abwechslung, bei dem uns die Motivation etwas schwer fiel.

 

Nach Montforte de Lemos brechen wir bei galizischem Wetter auf: Es ist kühl und regnet, aber nur auf den ersten Kilometern, dann bessert es sich wieder. Unterwegs passieren wir einige Abschnitte, auf denen der Weg pilgerfreundlicher gemacht wird. Z.B. werden große Steinquader über hunderte von Metern in einem Hohlweg ausgelegt, damit er auch bei Regen- und Matschwetter gut passierbar bleibt und nicht noch weiter ausgetreten wird. Am nächsten Tag unterwegs nach Chantada fallen die vielen Wegweiser auf, die am Wegesrand sehr frisch aussehen oder noch in der Gegend herumstehend auf ihren Einsatz warten.

 

Wir näheren uns der 100-Kilometer-Marke, ab der, insbesondere im Heiligen Jahr, im Pilgerbüro in Santiago auf zwei Stempel pro Etappe geachtet wird. Da kommt ein unscheinbares Kästchen auf einem Fensterbrett gerade recht, in dem ein Stempel liegt. Denn auf dem Camino Inverno haben wir Tage, an denen unterwegs nichts ist, wo wir einen Stempel bekommen könnten – und auch nicht einkehren oder einkaufen für die Verpflegung unterwegs. Da bewährt sich der Kocher ebenfalls, etwa um nach den ersten Stunden im kühlen Nebel an einem Rastplatz am Dorfbrunnen einen Kaffee zu kochen.

 

Vor Chantada überqueren wir den Rio Miño, der später zum Grenzfluss zwischen Spanien und Portugal wird. Über einen felsigen Waldweg geht es steil hinunter zum Fluss und auf der anderen Seite in der prallen Sonne durch die Weinberge ebenso steil wieder bergauf. Am Ende der Etappe wartet das reservierte Zimmer in einem Hostal, das für Pilgernde Sonderpreise hat. Direkt gegenüber ist eine Quelle, an der reger Betrieb herrscht. Viele Menschen aus der Nachbarschaft füllen dort Trinkflaschen. Das machen wir am nächsten Morgen vor dem Aufbruch auch. Vor uns liegt der höchste Punkt des Camino Inverno. Wir wundern uns über die Wegführung, denn der Camino führt nach einem langen Aufstieg nur unterhalb der Ermida de Nosa Señora do Faro (1.155 Meter) entlang und von dort wieder bergab. Bevor wir weiter dem Camino folgen, steigen wir den Kreuzweg „Camiño da Virxe” (Weg der Jungfrau) zur Einsiedelei auf und von dort aus noch ein paar Meter zum Monte Faro. Wir sind begeistert von der weiten Rundumsicht, picknicken und freuen uns, diesen Abstecher gemacht zu haben.

 

Im Bezirk Rodeiro weisen erstmals Schilder darauf hin, dass auch auf dem Camino Maskenpflicht besteht. Da die Regelungen in Spanien recht strikt sind und befolgt werden, haben wir nun schon "auf freier Strecke" die Masken in Griffweite und setzten sie wie die Spanier*innen auf, so wie jemand in Sicht kommt. Die Herberge in Rodeiro ist eine weitere der neuen Unterkünfte, in denen wir übernachtet haben. Alles ist noch kaum benutzt und sehr ordentlich. Zum ersten Mal gibt es sogar eine kleine Küche, so dass wir den Kocher zur Abwechslung mal nicht auspacken müssen.

 

Am vorletzten Pilgertag soll es warm werden und in Anbetracht der Strecke, die wir uns vorgenommen haben, starten wir noch im Dunkeln. Zu Beginn ist es noch kühl und der Nebel steigt aus den Wiesen. Dann ein herrlicher Sonnenaufgang. Wir genießen die wunderbare Morgenstimmung. Die Wege verlaufen oft sehr schön und typisch galizisch auf von Steinen gesäumten Pfaden. In kleinen Orten warten ein paar Hunde und freuen sich, wenn sie Pilgernde erschrecken und anbellen können. Aber es bleibt zum Glück beim Bellen.

 

In Laxe mündet der Camino Inverno in den Camino Sanabrés ein. In den Tagen seit Ponferrada haben wir insgesamt sechs andere Pilger*innen getroffen und hatten immer richtig eingeschätzt, dass wir auch in Herbergen zu zweit in einem Zimmer übernachten würden. Wie es aber nun werden würde, wussten wir nicht. Deshalb hatten wir uns entschieden, lieber nicht auf die Herberge in Laxe zu setzen, sondern noch rund zehn Kilometer weiter bis Silleda zu laufen, wo es ein günstiges Doppelzimmer in einem Hostal gab. Außerdem hatten wir überlegt, dass wir bei dieser Streckeneinteilung direkt von Silleda nach Santiago laufen und so noch einen Ruhetag vor dem Rückflug einlegen könnten.

 

Auch zur letzten Etappe starten wir im Dunkeln. Der Sonnenaufgang sah nach einem hellen Tag aus, aber dann war es doch bis zum Mittag bedeckt. Gut für uns, denn so sind wir zügig voran gekommen. Nach den ersten 7 km sogar eine offene Bar. So früh schon einkehren? Aber wir wissen inzwischen, dass wir die Gelegenheiten nutzen sollten, wenn sie sich schon mal bieten. Zum Café con leche bekommen wir reichlich Kuchen dazu. Diese Stärkung reicht locker bis zur Halbzeit nach Ponte Ulla. Dort picknicken wir im Garten an der Kirche und werden etwas merkwürdig beäugt, als die Gemeinde zum Sonntagsgottesdienst eintrifft.

 

Die zweite Etappenhälfte wurde dann anstrengender. Die Temperaturen stiegen, die Wege waren gut zu laufen, aber im Vergleich zum Camino Inverno etwas langweilig und die Orte eher modern und unattraktiv. Die Furcht vor Pilgermassen war auch auf den letzten Kilometern unbegründet. Erst kurz vor Santiago treffen wir auf zwei andere Pilger*innen.

 

Nachmittags kamen wir etwas müde, aber insgesamt sehr gut in Santiago an. Wir hatten uns wieder im Seminario Menor einquartiert. Weil wir zeitig genug da waren, haben wir die Rucksäcke im Seminario abgestellt und sind gleich weiter ins Pilgerbüro gegangen. Corona hat dort den Ablauf sehr verändert. Wir mussten am Eingang einen Code scannen, unsere Daten digital übermitteln, dann wieder zum Eingang und mit der ausgehändigten Wartemarke im Garten abwarten. In Zehnergruppen wurden die Wartenden hereingerufen, um die vorbereitete Compostela in Empfang zu nehmen.

 

Anschließend gingen wir noch zur Kathedrale, um herauszufinden, wie dort die Abläufe derzeit sind. Überraschenderweise brauchten wir nur ein paar Minuten anstehen, bevor wir durch die heilige Pforte die renovierte Kathedrale betreten konnten. Wir verweilten ein bisschen in einer Bank und bekamen mit, dass wir am besten die Plätze behalten und die Stunde bis zum Beginn der Abendmesse warten sollten, um überhaupt an einer teilnehmen zu können. Denn die Zahl der Teilnehmenden ist sehr begrenzt und alle ohne Sitzplatz wurden bereits so früh hinausgebeten. So hatten wir am Ende des letzten Pilgertages also ganz unerwartet sogar noch die Compostela erhalten und die Messe besuchen können.

 

Der abschließende Ruhetag wurde dann gar nicht so ruhig wie gehofft. Ich benötigte einen Schnelltest für den Rückflug. Und der war in Santiago gar nicht so einfach zu bekommen. Es gab nicht viele Labors und dort, wo ich war, eine Reihe von Missverständnissen, weshalb ich mehrere Stunden damit verbrachte und erst im dritten Anlauf tatsächlich zu einem Test kam. Schlussendlich sollte das aber nicht die wunderbare zurückliegende Pilgerei überdecken und es war Zeit, ausgeruhter die Kathedrale erneut zu besuchen.

 

Abends kam der Kocher ein letztes Mal zum Einsatz für das selbst bereitete Pilgermenü. An einer Bank unter dem Laubengang vor dem Seminario kochte Ralph uns ein Abschiedsessen bei dem er auch einige der Lebensmittel verarbeitete, die eine Jugendgruppe in der Herberge zurückgelassen hatte. Mit Panoramablick auf die Kathedrale ließen wir die Pilgertage Revue passieren und freuten uns einmal mehr, diesen schönen und ruhigen, für uns sehr passenden Weg entdeckt zu haben.